"dem letzten Auftritte, so dürfte er leicht mit "Erstaunen wahrnehmen, daß der, den er gan- "zer fünf Aufzüge hindurch, für einen verständi- "gen Mann gehalten hat, nichts als ein Narr "ist, und daß der, den er für einen Narren ge- "halten hat, wohl gar der verständige Mann "seyn könnte. Man sollte zu Anfange des fünf- "ten Aufzuges dieses Drama fast sagen, der "Verfasser sey durch den beschwerlichen Con- "trast gezwungen worden, seinen Zweck fahren "zu lassen, und das ganze Jnteresse des Stücks "umzukehren. Was ist aber daraus geworden? "Dieses, daß man gar nicht mehr weiß, für "wen man sich interessiren soll. Vom Anfange "her ist man für den Micio gegen den Demea "gewesen, und am Ende ist man für keinen von "beiden. Beynahe sollte man einen dritten Va- "ter verlangen, der das Mittel zwischen diesen "zwey Personen hielte, und zeigte, worinn sie "beide fehlten."
Nicht ich! Jch verbitte mir ihn sehr, diesen dritten Vater; es sey in dem nehmlichen Stücke, oder auch allein. Welcher Vater glaubt nicht zu wissen, wie ein Vater seyn soll? Auf dem rechten Wege dünken wir uns alle: wir verlan- gen nur, dann und wann vor den Abwegen zu beiden Seiten gewarnet zu werden.
Diderot hat Recht: es ist besser, wenn die Cha- raktere blos verschieden, als wenn sie contrastirt
sind.
„dem letzten Auftritte, ſo dürfte er leicht mit „Erſtaunen wahrnehmen, daß der, den er gan- „zer fünf Aufzüge hindurch, für einen verſtändi- „gen Mann gehalten hat, nichts als ein Narr „iſt, und daß der, den er für einen Narren ge- „halten hat, wohl gar der verſtändige Mann „ſeyn könnte. Man ſollte zu Anfange des fünf- „ten Aufzuges dieſes Drama faſt ſagen, der „Verfaſſer ſey durch den beſchwerlichen Con- „traſt gezwungen worden, ſeinen Zweck fahren „zu laſſen, und das ganze Jntereſſe des Stücks „umzukehren. Was iſt aber daraus geworden? „Dieſes, daß man gar nicht mehr weiß, für „wen man ſich intereſſiren ſoll. Vom Anfange „her iſt man für den Micio gegen den Demea „geweſen, und am Ende iſt man für keinen von „beiden. Beynahe ſollte man einen dritten Va- „ter verlangen, der das Mittel zwiſchen dieſen „zwey Perſonen hielte, und zeigte, worinn ſie „beide fehlten.„
Nicht ich! Jch verbitte mir ihn ſehr, dieſen dritten Vater; es ſey in dem nehmlichen Stücke, oder auch allein. Welcher Vater glaubt nicht zu wiſſen, wie ein Vater ſeyn ſoll? Auf dem rechten Wege dünken wir uns alle: wir verlan- gen nur, dann und wann vor den Abwegen zu beiden Seiten gewarnet zu werden.
Diderot hat Recht: es iſt beſſer, wenn die Cha- raktere blos verſchieden, als wenn ſie contraſtirt
ſind.
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„dem letzten Auftritte, ſo dürfte er leicht mit
„Erſtaunen wahrnehmen, daß der, den er gan-
„zer fünf Aufzüge hindurch, für einen verſtändi-
„gen Mann gehalten hat, nichts als ein Narr
„iſt, und daß der, den er für einen Narren ge-
„halten hat, wohl gar der verſtändige Mann
„ſeyn könnte. Man ſollte zu Anfange des fünf-
„ten Aufzuges dieſes Drama faſt ſagen, der
„Verfaſſer ſey durch den beſchwerlichen Con-
„traſt gezwungen worden, ſeinen Zweck fahren
„zu laſſen, und das ganze Jntereſſe des Stücks
„umzukehren. Was iſt aber daraus geworden?
„Dieſes, daß man gar nicht mehr weiß, für
„wen man ſich intereſſiren ſoll. Vom Anfange
„her iſt man für den Micio gegen den Demea
„geweſen, und am Ende iſt man für keinen von
„beiden. Beynahe ſollte man einen dritten Va-
„ter verlangen, der das Mittel zwiſchen dieſen
„zwey Perſonen hielte, und zeigte, worinn ſie
„beide fehlten.„
Nicht ich! Jch verbitte mir ihn ſehr, dieſen
dritten Vater; es ſey in dem nehmlichen Stücke,
oder auch allein. Welcher Vater glaubt nicht
zu wiſſen, wie ein Vater ſeyn ſoll? Auf dem
rechten Wege dünken wir uns alle: wir verlan-
gen nur, dann und wann vor den Abwegen zu
beiden Seiten gewarnet zu werden.
Diderot hat Recht: es iſt beſſer, wenn die Cha-
raktere blos verſchieden, als wenn ſie contraſtirt
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/277>, abgerufen am 22.11.2024.
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