diese Lehre: und welchem Reitze von der Art brauchte ich in einer solchen Schrift zu wider- stehen?
"Die komische Gattung, sagt Diderot, (*) "hat Arten, und die tragische hat Jndividua. "Jch will mich erklären. Der Held einer Tra- "gödie ist der und der Mensch: es ist Regulus, "oder Brutus, oder Cato, und sonst kein an- "derer. Die vornehmste Person einer Komödie "hingegen muß eine große Anzahl von Menschen "vorstellen. Gäbe man ihr von ohngefehr eine "so eigene Physiognomie, daß ihr nur ein einziges "Jndividuum ähnlich wäre, so würde die Ko- "mödie wieder in ihre Kindheit zurücktreten. -- "Terenz scheinet mir einmal in diesen Fehler ge- "fallen zu seyn. Sein Heavtontimorume- "nos ist ein Vater, der sich über den gewaltsa- "men Entschluß grämet, zu welchem er seinen "Sohn durch übermäßige Strenge gebracht hat, "und der sich deswegen nun selbst bestraft, in- "dem er sich in Kleidung und Speise kümmerlich "hält, allen Umgang fliehet, sein Gesinde ab- "schaft, und das Feid mit eigenen Händen bauet. "Man kann gar wohl sagen, daß es so einen "Vater nicht giebt. Die größte Stadt würde "kaum in einem ganzen Jahrhunderte Ein Bey- "spiel einer so seltsamen Betrübniß aufzuweisen "haben."
Zu-
(*) Unterred. S. 292. d. Uebers.
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dieſe Lehre: und welchem Reitze von der Art brauchte ich in einer ſolchen Schrift zu wider- ſtehen?
„Die komiſche Gattung, ſagt Diderot, (*) „hat Arten, und die tragiſche hat Jndividua. „Jch will mich erklären. Der Held einer Tra- „gödie iſt der und der Menſch: es iſt Regulus, „oder Brutus, oder Cato, und ſonſt kein an- „derer. Die vornehmſte Perſon einer Komödie „hingegen muß eine große Anzahl von Menſchen „vorſtellen. Gäbe man ihr von ohngefehr eine „ſo eigene Phyſiognomie, daß ihr nur ein einziges „Jndividuum ähnlich wäre, ſo würde die Ko- „mödie wieder in ihre Kindheit zurücktreten. — „Terenz ſcheinet mir einmal in dieſen Fehler ge- „fallen zu ſeyn. Sein Heavtontimorume- „nos iſt ein Vater, der ſich über den gewaltſa- „men Entſchluß grämet, zu welchem er ſeinen „Sohn durch übermäßige Strenge gebracht hat, „und der ſich deswegen nun ſelbſt beſtraft, in- „dem er ſich in Kleidung und Speiſe kümmerlich „hält, allen Umgang fliehet, ſein Geſinde ab- „ſchaft, und das Feid mit eigenen Händen bauet. „Man kann gar wohl ſagen, daß es ſo einen „Vater nicht giebt. Die größte Stadt würde „kaum in einem ganzen Jahrhunderte Ein Bey- „ſpiel einer ſo ſeltſamen Betrübniß aufzuweiſen „haben.„
Zu-
(*) Unterred. S. 292. d. Ueberſ.
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dieſe Lehre: und welchem Reitze von der Art
brauchte ich in einer ſolchen Schrift zu wider-
ſtehen?
„Die komiſche Gattung, ſagt Diderot, (*)
„hat Arten, und die tragiſche hat Jndividua.
„Jch will mich erklären. Der Held einer Tra-
„gödie iſt der und der Menſch: es iſt Regulus,
„oder Brutus, oder Cato, und ſonſt kein an-
„derer. Die vornehmſte Perſon einer Komödie
„hingegen muß eine große Anzahl von Menſchen
„vorſtellen. Gäbe man ihr von ohngefehr eine
„ſo eigene Phyſiognomie, daß ihr nur ein einziges
„Jndividuum ähnlich wäre, ſo würde die Ko-
„mödie wieder in ihre Kindheit zurücktreten. —
„Terenz ſcheinet mir einmal in dieſen Fehler ge-
„fallen zu ſeyn. Sein Heavtontimorume-
„nos iſt ein Vater, der ſich über den gewaltſa-
„men Entſchluß grämet, zu welchem er ſeinen
„Sohn durch übermäßige Strenge gebracht hat,
„und der ſich deswegen nun ſelbſt beſtraft, in-
„dem er ſich in Kleidung und Speiſe kümmerlich
„hält, allen Umgang fliehet, ſein Geſinde ab-
„ſchaft, und das Feid mit eigenen Händen bauet.
„Man kann gar wohl ſagen, daß es ſo einen
„Vater nicht giebt. Die größte Stadt würde
„kaum in einem ganzen Jahrhunderte Ein Bey-
„ſpiel einer ſo ſeltſamen Betrübniß aufzuweiſen
„haben.„
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(*) Unterred. S. 292. d. Ueberſ.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/281>, abgerufen am 22.11.2024.
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