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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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"sen kann; und als ich die Augen aufthat, mich
"nach den Banden umzusehen, die mich mit den
"Menschen verknüpften, konnte ich kaum einige
"Trümmern davon erblicken. Dreyßig Jahre
"lang irrte ich unter ihnen einsam, unbekannt
"und verabsäumet umher, ohne die Zärtlichkeit
"irgend eines Menschen empfunden, noch irgend
"einen Menschen angetroffen zu haben, der die
"meinige gesucht hätte." Daß ein natürliches
Kind sich vergebens nach seinen Aeltern, verge-
bens nach Personen umsehen kann, mit welchen
es die nähern Bande des Bluts verknüpfen:
das ist sehr begreiflich; das kann unter zehnen
neunen begegnen. Aber daß es ganze dreyßig
Jahre in der Welt herum irren könne, ohne die
Zärtlichkeit irgend eines Menschen empfunden
zu haben, ohne irgend einen Menschen angetrof-
fen zu haben, der die seinige gesucht hätte: das,
sollte ich fast sagen, ist schlechterdings unmög-
lich. Oder, wenn es möglich wäre, welche
Menge ganz besonderer Umstände müßten von
beiden Seiten, von Seiten der Welt und von
Seiten dieses so lange insulirten Wesens, zu-
sammen gekommen seyn, diese traurige Mög-
lichkeit wirklich zu machen? Jahrhunderte auf
Jahrhunderte werden verfließen, ehe sie wieder
einmal wirklich wird. Wolle der Himmel
nicht, daß ich mir je das menschliche Geschlecht
anders vorstelle! Lieber wünschte ich sonst, ein

Bär

„ſen kann; und als ich die Augen aufthat, mich
„nach den Banden umzuſehen, die mich mit den
„Menſchen verknüpften, konnte ich kaum einige
„Trümmern davon erblicken. Dreyßig Jahre
„lang irrte ich unter ihnen einſam, unbekannt
„und verabſäumet umher, ohne die Zärtlichkeit
„irgend eines Menſchen empfunden, noch irgend
„einen Menſchen angetroffen zu haben, der die
„meinige geſucht hätte.„ Daß ein natürliches
Kind ſich vergebens nach ſeinen Aeltern, verge-
bens nach Perſonen umſehen kann, mit welchen
es die nähern Bande des Bluts verknüpfen:
das iſt ſehr begreiflich; das kann unter zehnen
neunen begegnen. Aber daß es ganze dreyßig
Jahre in der Welt herum irren könne, ohne die
Zärtlichkeit irgend eines Menſchen empfunden
zu haben, ohne irgend einen Menſchen angetrof-
fen zu haben, der die ſeinige geſucht hätte: das,
ſollte ich faſt ſagen, iſt ſchlechterdings unmög-
lich. Oder, wenn es möglich wäre, welche
Menge ganz beſonderer Umſtände müßten von
beiden Seiten, von Seiten der Welt und von
Seiten dieſes ſo lange inſulirten Weſens, zu-
ſammen gekommen ſeyn, dieſe traurige Mög-
lichkeit wirklich zu machen? Jahrhunderte auf
Jahrhunderte werden verfließen, ehe ſie wieder
einmal wirklich wird. Wolle der Himmel
nicht, daß ich mir je das menſchliche Geſchlecht
anders vorſtelle! Lieber wünſchte ich ſonſt, ein

Bär
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[286/0292] „ſen kann; und als ich die Augen aufthat, mich „nach den Banden umzuſehen, die mich mit den „Menſchen verknüpften, konnte ich kaum einige „Trümmern davon erblicken. Dreyßig Jahre „lang irrte ich unter ihnen einſam, unbekannt „und verabſäumet umher, ohne die Zärtlichkeit „irgend eines Menſchen empfunden, noch irgend „einen Menſchen angetroffen zu haben, der die „meinige geſucht hätte.„ Daß ein natürliches Kind ſich vergebens nach ſeinen Aeltern, verge- bens nach Perſonen umſehen kann, mit welchen es die nähern Bande des Bluts verknüpfen: das iſt ſehr begreiflich; das kann unter zehnen neunen begegnen. Aber daß es ganze dreyßig Jahre in der Welt herum irren könne, ohne die Zärtlichkeit irgend eines Menſchen empfunden zu haben, ohne irgend einen Menſchen angetrof- fen zu haben, der die ſeinige geſucht hätte: das, ſollte ich faſt ſagen, iſt ſchlechterdings unmög- lich. Oder, wenn es möglich wäre, welche Menge ganz beſonderer Umſtände müßten von beiden Seiten, von Seiten der Welt und von Seiten dieſes ſo lange inſulirten Weſens, zu- ſammen gekommen ſeyn, dieſe traurige Mög- lichkeit wirklich zu machen? Jahrhunderte auf Jahrhunderte werden verfließen, ehe ſie wieder einmal wirklich wird. Wolle der Himmel nicht, daß ich mir je das menſchliche Geſchlecht anders vorſtelle! Lieber wünſchte ich ſonſt, ein Bär

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/292>, abgerufen am 21.11.2024.