"denn auch die Poesie philosophischer und nütz- "licher als die Geschichte. Denn die Poesie "geht mehr auf das Allgemeine, und die Ge- "schichte auf das Besondere. Das Allgemeine "aber ist, wie so oder so ein Mann nach der "Wahrscheinlichkeit oder Nothwendigkeit spre- "chen und handeln würde; als worauf die "Dichtkunst bey Ertheilung der Namen sieht. "Das Besondere hingegen ist, was Aleibiades "gethan, oder gelitten hat. Bey der Komödie "nun hat sich dieses schon ganz offenbar gezeigt; "denn wenn die Fabel nach der Wahrscheinlich- "keit abgefaßt ist, legt man die etwanigen Na- "men sonach bey, und macht es nicht wie die Jam- "bischen Dichter, die bey dem Einzeln bleiben. "Bey der Tragödie aber hält man sich an die "schon vorhandenen Namen; aus Ursache, weil "das Mögliche glaubwürdig ist, und wir nicht "möglich glauben, was nie geschehen, da hin- "gegen was geschehen, offenbar möglich seyn "muß, weil es nicht geschehen wäre, wenn es "nicht möglich wäre. Und doch sind auch in "den Tragödien, in einigen nur ein oder zwey "bekannte Namen, und die übrigen sind erdich- "tet; in einigen auch gar keiner, so wie in der "Blume des Agathon. Denn in diesem "Stücke sind Handlungen und Namen gleich "erdichtet, und doch gefällt es darum nichts "weniger."
Jn
O o 2
„denn auch die Poeſie philoſophiſcher und nütz- „licher als die Geſchichte. Denn die Poeſie „geht mehr auf das Allgemeine, und die Ge- „ſchichte auf das Beſondere. Das Allgemeine „aber iſt, wie ſo oder ſo ein Mann nach der „Wahrſcheinlichkeit oder Nothwendigkeit ſpre- „chen und handeln würde; als worauf die „Dichtkunſt bey Ertheilung der Namen ſieht. „Das Beſondere hingegen iſt, was Aleibiades „gethan, oder gelitten hat. Bey der Komödie „nun hat ſich dieſes ſchon ganz offenbar gezeigt; „denn wenn die Fabel nach der Wahrſcheinlich- „keit abgefaßt iſt, legt man die etwanigen Na- „men ſonach bey, und macht es nicht wie die Jam- „biſchen Dichter, die bey dem Einzeln bleiben. „Bey der Tragödie aber hält man ſich an die „ſchon vorhandenen Namen; aus Urſache, weil „das Mögliche glaubwürdig iſt, und wir nicht „möglich glauben, was nie geſchehen, da hin- „gegen was geſchehen, offenbar möglich ſeyn „muß, weil es nicht geſchehen wäre, wenn es „nicht möglich wäre. Und doch ſind auch in „den Tragödien, in einigen nur ein oder zwey „bekannte Namen, und die übrigen ſind erdich- „tet; in einigen auch gar keiner, ſo wie in der „Blume des Agathon. Denn in dieſem „Stücke ſind Handlungen und Namen gleich „erdichtet, und doch gefällt es darum nichts „weniger.„
Jn
O o 2
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0297"n="291"/>„denn auch die Poeſie philoſophiſcher und nütz-<lb/>„licher als die Geſchichte. Denn die Poeſie<lb/>„geht mehr auf das Allgemeine, und die Ge-<lb/>„ſchichte auf das Beſondere. Das Allgemeine<lb/>„aber iſt, wie ſo oder ſo ein Mann nach der<lb/>„Wahrſcheinlichkeit oder Nothwendigkeit ſpre-<lb/>„chen und handeln würde; als worauf die<lb/>„Dichtkunſt bey Ertheilung der Namen ſieht.<lb/>„Das Beſondere hingegen iſt, was Aleibiades<lb/>„gethan, oder gelitten hat. Bey der Komödie<lb/>„nun hat ſich dieſes ſchon ganz offenbar gezeigt;<lb/>„denn wenn die Fabel nach der Wahrſcheinlich-<lb/>„keit abgefaßt iſt, legt man die etwanigen Na-<lb/>„men ſonach bey, und macht es nicht wie die Jam-<lb/>„biſchen Dichter, die bey dem Einzeln bleiben.<lb/>„Bey der Tragödie aber hält man ſich an die<lb/>„ſchon vorhandenen Namen; aus Urſache, weil<lb/>„das Mögliche glaubwürdig iſt, und wir nicht<lb/>„möglich glauben, was nie geſchehen, da hin-<lb/>„gegen was geſchehen, offenbar möglich ſeyn<lb/>„muß, weil es nicht geſchehen wäre, wenn es<lb/>„nicht möglich wäre. Und doch ſind auch in<lb/>„den Tragödien, in einigen nur ein oder zwey<lb/>„bekannte Namen, und die übrigen ſind erdich-<lb/>„tet; in einigen auch gar keiner, ſo wie in der<lb/>„<hirendition="#g">Blume</hi> des <hirendition="#g">Agathon</hi>. Denn in dieſem<lb/>„Stücke ſind Handlungen und Namen gleich<lb/>„erdichtet, und doch gefällt es darum nichts<lb/>„weniger.„</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">O o 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">Jn</fw><lb/></div></body></text></TEI>
[291/0297]
„denn auch die Poeſie philoſophiſcher und nütz-
„licher als die Geſchichte. Denn die Poeſie
„geht mehr auf das Allgemeine, und die Ge-
„ſchichte auf das Beſondere. Das Allgemeine
„aber iſt, wie ſo oder ſo ein Mann nach der
„Wahrſcheinlichkeit oder Nothwendigkeit ſpre-
„chen und handeln würde; als worauf die
„Dichtkunſt bey Ertheilung der Namen ſieht.
„Das Beſondere hingegen iſt, was Aleibiades
„gethan, oder gelitten hat. Bey der Komödie
„nun hat ſich dieſes ſchon ganz offenbar gezeigt;
„denn wenn die Fabel nach der Wahrſcheinlich-
„keit abgefaßt iſt, legt man die etwanigen Na-
„men ſonach bey, und macht es nicht wie die Jam-
„biſchen Dichter, die bey dem Einzeln bleiben.
„Bey der Tragödie aber hält man ſich an die
„ſchon vorhandenen Namen; aus Urſache, weil
„das Mögliche glaubwürdig iſt, und wir nicht
„möglich glauben, was nie geſchehen, da hin-
„gegen was geſchehen, offenbar möglich ſeyn
„muß, weil es nicht geſchehen wäre, wenn es
„nicht möglich wäre. Und doch ſind auch in
„den Tragödien, in einigen nur ein oder zwey
„bekannte Namen, und die übrigen ſind erdich-
„tet; in einigen auch gar keiner, ſo wie in der
„Blume des Agathon. Denn in dieſem
„Stücke ſind Handlungen und Namen gleich
„erdichtet, und doch gefällt es darum nichts
„weniger.„
Jn
O o 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/297>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.