"in diesem Beyspiele selbst fehlerhaft; ob es "schon sonst, mit der erforderlichen Erklärung, "nicht ganz unschicklich seyn wird, meine Mei- "nung begreiflich zu machen.
"Da die komische Bühne die Absicht hat, "Charaktere zu schildern, so meine ich kann diese "Absicht am vollkommensten erreicht werden, "wenn sie diese Charaktere so allgemein macht, "als möglich. Denn indem auf diese Weise die "in dem Stücke aufgeführte Person gleichsam "der Representant aller Charaktere dieser Art "wird, so kann unsere Lust an der Wahrheit "der Verstellung so viel Nahrung darinn fin- "den, als nur möglich. Es muß aber sodann "diese Allgemeinheit sich nicht bis auf unsern "Begriff von den möglichen Wirkungen des "Charakters, im Abstracto betrachtet, erstrecken, "sondern nur bis auf die wirkliche Aeußerung "seiner Kräfte, so wie sie von der Erfahrung "gerechtfertiget werden, und im gemeinen Leben "Statt finden können. Hierinn haben Moliere, "und vor ihm Plautus, gefehlt; statt der Ab- "bildung eines geitzigen Mannes, haben "sie uns eine grillenhafte widrige Schilderung "der Leidenschaft des Geitzes gegeben. "Jch nenne es eine grillenhafte Schilde- "rung, weil sie kein Urbild in der Natur hat. "Jch nenne es eine widrige Schilderung;
"denn
„in dieſem Beyſpiele ſelbſt fehlerhaft; ob es „ſchon ſonſt, mit der erforderlichen Erklärung, „nicht ganz unſchicklich ſeyn wird, meine Mei- „nung begreiflich zu machen.
„Da die komiſche Bühne die Abſicht hat, „Charaktere zu ſchildern, ſo meine ich kann dieſe „Abſicht am vollkommenſten erreicht werden, „wenn ſie dieſe Charaktere ſo allgemein macht, „als möglich. Denn indem auf dieſe Weiſe die „in dem Stücke aufgeführte Perſon gleichſam „der Repreſentant aller Charaktere dieſer Art „wird, ſo kann unſere Luſt an der Wahrheit „der Verſtellung ſo viel Nahrung darinn fin- „den, als nur möglich. Es muß aber ſodann „dieſe Allgemeinheit ſich nicht bis auf unſern „Begriff von den möglichen Wirkungen des „Charakters, im Abſtracto betrachtet, erſtrecken, „ſondern nur bis auf die wirkliche Aeußerung „ſeiner Kräfte, ſo wie ſie von der Erfahrung „gerechtfertiget werden, und im gemeinen Leben „Statt finden können. Hierinn haben Moliere, „und vor ihm Plautus, gefehlt; ſtatt der Ab- „bildung eines geitzigen Mannes, haben „ſie uns eine grillenhafte widrige Schilderung „der Leidenſchaft des Geitzes gegeben. „Jch nenne es eine grillenhafte Schilde- „rung, weil ſie kein Urbild in der Natur hat. „Jch nenne es eine widrige Schilderung;
„denn
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„in dieſem Beyſpiele ſelbſt fehlerhaft; ob es
„ſchon ſonſt, mit der erforderlichen Erklärung,
„nicht ganz unſchicklich ſeyn wird, meine Mei-
„nung begreiflich zu machen.
„Da die komiſche Bühne die Abſicht hat,
„Charaktere zu ſchildern, ſo meine ich kann dieſe
„Abſicht am vollkommenſten erreicht werden,
„wenn ſie dieſe Charaktere ſo allgemein macht,
„als möglich. Denn indem auf dieſe Weiſe die
„in dem Stücke aufgeführte Perſon gleichſam
„der Repreſentant aller Charaktere dieſer Art
„wird, ſo kann unſere Luſt an der Wahrheit
„der Verſtellung ſo viel Nahrung darinn fin-
„den, als nur möglich. Es muß aber ſodann
„dieſe Allgemeinheit ſich nicht bis auf unſern
„Begriff von den möglichen Wirkungen des
„Charakters, im Abſtracto betrachtet, erſtrecken,
„ſondern nur bis auf die wirkliche Aeußerung
„ſeiner Kräfte, ſo wie ſie von der Erfahrung
„gerechtfertiget werden, und im gemeinen Leben
„Statt finden können. Hierinn haben Moliere,
„und vor ihm Plautus, gefehlt; ſtatt der Ab-
„bildung eines geitzigen Mannes, haben
„ſie uns eine grillenhafte widrige Schilderung
„der Leidenſchaft des Geitzes gegeben.
„Jch nenne es eine grillenhafte Schilde-
„rung, weil ſie kein Urbild in der Natur hat.
„Jch nenne es eine widrige Schilderung;
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/325>, abgerufen am 21.11.2024.
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