"tischen Poesie zu erreichen, empfiehlet Ho- "raz (*) zwey Dinge: einmal, die Socra- "tische Philosophie fleißig zu studieren; zwey- "tens, sich um eine genaue Kenntniß des "menschlichen Lebens zu bewerben. Jenes, "weil es der eigenthümliche Vorzug dieser "Schule ist, ad veritatem vitae propius "accedere;(**) dieses, um unserer Nachah- "mung eine desto allgemeinere Aehnlichkeit er- "theilen zu können. Sich hiervon zu überzeu- "gen, darf man nur erwägen, daß man sich in "Werken der Nachahmung an die Wahrheit "zu genau halten kann; und dieses auf doppelte "Weise. Denn entweder kann der Künstler, "wenn er die Natur nachbilden will, sich zu "ängstlich befleißigen, alle und jede Beson- "derheiten seines Gegenstandes anzudeuten, "und so die allgemeine Jdee der Gattung "auszudrücken verfehlen. Oder er kann, wenn "er sich diese allgemeine Jdee zu ertheilen be- "müht, sie aus zu vielen Fällen des wirkli- "chen Lebens, nach seinem weitesten Umfange, "zusammen setzen; da er sie vielmehr von dem "lautern Begriffe, der sich blos in der Vorstel- "lung der Seele findet, hernehmen sollte. Die- "ses letztere ist der allgemeine Tadel, womit die "Schule der Niederländischen Mahler zu
"be-
(*)De arte poet. v. 310. 317. 18.
(**)De Orat. I. 51.
„tiſchen Poeſie zu erreichen, empfiehlet Ho- „raz (*) zwey Dinge: einmal, die Socra- „tiſche Philoſophie fleißig zu ſtudieren; zwey- „tens, ſich um eine genaue Kenntniß des „menſchlichen Lebens zu bewerben. Jenes, „weil es der eigenthümliche Vorzug dieſer „Schule iſt, ad veritatem vitæ propius „accedere;(**) dieſes, um unſerer Nachah- „mung eine deſto allgemeinere Aehnlichkeit er- „theilen zu können. Sich hiervon zu überzeu- „gen, darf man nur erwägen, daß man ſich in „Werken der Nachahmung an die Wahrheit „zu genau halten kann; und dieſes auf doppelte „Weiſe. Denn entweder kann der Künſtler, „wenn er die Natur nachbilden will, ſich zu „ängſtlich befleißigen, alle und jede Beſon- „derheiten ſeines Gegenſtandes anzudeuten, „und ſo die allgemeine Jdee der Gattung „auszudrücken verfehlen. Oder er kann, wenn „er ſich dieſe allgemeine Jdee zu ertheilen be- „müht, ſie aus zu vielen Fällen des wirkli- „chen Lebens, nach ſeinem weiteſten Umfange, „zuſammen ſetzen; da er ſie vielmehr von dem „lautern Begriffe, der ſich blos in der Vorſtel- „lung der Seele findet, hernehmen ſollte. Die- „ſes letztere iſt der allgemeine Tadel, womit die „Schule der Niederländiſchen Mahler zu
„be-
(*)De arte poet. v. 310. 317. 18.
(**)De Orat. I. 51.
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„tiſchen Poeſie zu erreichen, empfiehlet Ho-
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„tiſche Philoſophie fleißig zu ſtudieren; zwey-
„tens, ſich um eine genaue Kenntniß des
„menſchlichen Lebens zu bewerben. Jenes,
„weil es der eigenthümliche Vorzug dieſer
„Schule iſt, ad veritatem vitæ propius
„accedere; (**) dieſes, um unſerer Nachah-
„mung eine deſto allgemeinere Aehnlichkeit er-
„theilen zu können. Sich hiervon zu überzeu-
„gen, darf man nur erwägen, daß man ſich in
„Werken der Nachahmung an die Wahrheit
„zu genau halten kann; und dieſes auf doppelte
„Weiſe. Denn entweder kann der Künſtler,
„wenn er die Natur nachbilden will, ſich zu
„ängſtlich befleißigen, alle und jede Beſon-
„derheiten ſeines Gegenſtandes anzudeuten,
„und ſo die allgemeine Jdee der Gattung
„auszudrücken verfehlen. Oder er kann, wenn
„er ſich dieſe allgemeine Jdee zu ertheilen be-
„müht, ſie aus zu vielen Fällen des wirkli-
„chen Lebens, nach ſeinem weiteſten Umfange,
„zuſammen ſetzen; da er ſie vielmehr von dem
„lautern Begriffe, der ſich blos in der Vorſtel-
„lung der Seele findet, hernehmen ſollte. Die-
„ſes letztere iſt der allgemeine Tadel, womit die
„Schule der Niederländiſchen Mahler zu
„be-
(*) De arte poet. v. 310. 317. 18.
(**) De Orat. I. 51.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/336>, abgerufen am 21.11.2024.
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