"Ein Einwurf stößt gleichwohl hier auf, den "wir nicht unangezeigt lassen müssen. Man "könnte sagen, "daß philosophische Speculatio- "nen die Begriffe eines Menschen eher abstrakt "und allgemein machen, als sie auf das "Jndividuelle einschränken müßten. Das "letztere sey ein Mangel, welcher aus der kleinen "Anzahl von Gegenständen entspringe, die den "Menschen zu betrachten vorkommen; und die- "sem Mangel sey nicht allein dadurch abzuhelfen, "daß man sich mit mehrern Jndividuis bekannt "mache, als worinn die Kenntniß der Welt be- "stehe; sondern auch dadurch, daß man über "die allgemeine Natur der Menschen nach- "denke, so wie sie in guten moralischen Büchern "gelehrt werde. Denn die Verfasser solcher "Bücher hätten ihren allgemeinen Begriff von "der menschlichen Natur nicht anders als aus "einer ausgebreiteten Erfahrung (es sey nun ih- "rer eignen, oder fremden) haben können, ohne "welche ihre Bücher sonst von keinem Werthe "seyn würden." Die Antwort hierauf, dünkt "mich, ist diese. Durch Erwägung der "allgemeinen Natur des Menschen ler- "net der Philosoph, wie die Handlung beschaf- "fen seyn muß, die aus dem Uebergewichte ge- "wisser Neigungen und Eigenschaften entsprin- "get: das ist, er lernet das Betragen überhaupt, "welches der beygelegte Charakter erfodert.
"Aber
„Ein Einwurf ſtößt gleichwohl hier auf, den „wir nicht unangezeigt laſſen müſſen. Man „könnte ſagen, „daß philoſophiſche Speculatio- „nen die Begriffe eines Menſchen eher abſtrakt „und allgemein machen, als ſie auf das „Jndividuelle einſchränken müßten. Das „letztere ſey ein Mangel, welcher aus der kleinen „Anzahl von Gegenſtänden entſpringe, die den „Menſchen zu betrachten vorkommen; und die- „ſem Mangel ſey nicht allein dadurch abzuhelfen, „daß man ſich mit mehrern Jndividuis bekannt „mache, als worinn die Kenntniß der Welt be- „ſtehe; ſondern auch dadurch, daß man über „die allgemeine Natur der Menſchen nach- „denke, ſo wie ſie in guten moraliſchen Büchern „gelehrt werde. Denn die Verfaſſer ſolcher „Bücher hätten ihren allgemeinen Begriff von „der menſchlichen Natur nicht anders als aus „einer ausgebreiteten Erfahrung (es ſey nun ih- „rer eignen, oder fremden) haben können, ohne „welche ihre Bücher ſonſt von keinem Werthe „ſeyn würden.„ Die Antwort hierauf, dünkt „mich, iſt dieſe. Durch Erwägung der „allgemeinen Natur des Menſchen ler- „net der Philoſoph, wie die Handlung beſchaf- „fen ſeyn muß, die aus dem Uebergewichte ge- „wiſſer Neigungen und Eigenſchaften entſprin- „get: das iſt, er lernet das Betragen überhaupt, „welches der beygelegte Charakter erfodert.
„Aber
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„Ein Einwurf ſtößt gleichwohl hier auf, den
„wir nicht unangezeigt laſſen müſſen. Man
„könnte ſagen, „daß philoſophiſche Speculatio-
„nen die Begriffe eines Menſchen eher abſtrakt
„und allgemein machen, als ſie auf das
„Jndividuelle einſchränken müßten. Das
„letztere ſey ein Mangel, welcher aus der kleinen
„Anzahl von Gegenſtänden entſpringe, die den
„Menſchen zu betrachten vorkommen; und die-
„ſem Mangel ſey nicht allein dadurch abzuhelfen,
„daß man ſich mit mehrern Jndividuis bekannt
„mache, als worinn die Kenntniß der Welt be-
„ſtehe; ſondern auch dadurch, daß man über
„die allgemeine Natur der Menſchen nach-
„denke, ſo wie ſie in guten moraliſchen Büchern
„gelehrt werde. Denn die Verfaſſer ſolcher
„Bücher hätten ihren allgemeinen Begriff von
„der menſchlichen Natur nicht anders als aus
„einer ausgebreiteten Erfahrung (es ſey nun ih-
„rer eignen, oder fremden) haben können, ohne
„welche ihre Bücher ſonſt von keinem Werthe
„ſeyn würden.„ Die Antwort hierauf, dünkt
„mich, iſt dieſe. Durch Erwägung der
„allgemeinen Natur des Menſchen ler-
„net der Philoſoph, wie die Handlung beſchaf-
„fen ſeyn muß, die aus dem Uebergewichte ge-
„wiſſer Neigungen und Eigenſchaften entſprin-
„get: das iſt, er lernet das Betragen überhaupt,
„welches der beygelegte Charakter erfodert.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/341>, abgerufen am 22.11.2024.
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