"Aber deutlich und zuverläßig zu wissen, wie "weit und in welchem Grade von Stärke sich "dieser oder jener Charakter, bey besondern Ge- "legenheiten, wahrscheinlicher Weise äußern "würde, das ist einzig und allein eine Frucht "von unserer Kenntniß der Welt. Daß Bey- "spiele von dem Mangel dieser Kenntniß, bey "einem Dichter, wie Euripides war, sehr häu- "fig sollten gewesen seyn, läßt sich nicht wohl "annehmen: auch werden, wo sich dergleichen "in seinen übrig gebliebenen Stücken etwa fin- "den sollten, sie schwerlich so offenbar seyn, daß "sie auch einem gemeinen Leser in die Augen "fallen müßten. Es können nur Feinheiten "seyn, die allein der wahre Kunstrichter zu un- "terscheiden vermögend ist; und auch diesem "kann, in einer solchen Entfernung von Zeit, "aus Unwissenheit der griechischen Sitten, wohl "etwas als ein Fehler vorkommen, was im "Grunde eine Schönheit ist. Es würde also "ein sehr gefährliches Unternehmen seyn, die "Stellen im Euripides anzeigen zu wollen, wel- "che Aristoteles diesem Tadel unterworfen zu "seyn, geglaubt hatte. Aber gleichwohl will "ich es wagen, eine anzuführen, die, wenn ich "sie auch schon nicht nach aller Gerechtigkeit kri- "tisiren sollte, wenigsten meine Meinung zu er- "läutern, dienen kann.
Ham-
„Aber deutlich und zuverläßig zu wiſſen, wie „weit und in welchem Grade von Stärke ſich „dieſer oder jener Charakter, bey beſondern Ge- „legenheiten, wahrſcheinlicher Weiſe äußern „würde, das iſt einzig und allein eine Frucht „von unſerer Kenntniß der Welt. Daß Bey- „ſpiele von dem Mangel dieſer Kenntniß, bey „einem Dichter, wie Euripides war, ſehr häu- „fig ſollten geweſen ſeyn, läßt ſich nicht wohl „annehmen: auch werden, wo ſich dergleichen „in ſeinen übrig gebliebenen Stücken etwa fin- „den ſollten, ſie ſchwerlich ſo offenbar ſeyn, daß „ſie auch einem gemeinen Leſer in die Augen „fallen müßten. Es können nur Feinheiten „ſeyn, die allein der wahre Kunſtrichter zu un- „terſcheiden vermögend iſt; und auch dieſem „kann, in einer ſolchen Entfernung von Zeit, „aus Unwiſſenheit der griechiſchen Sitten, wohl „etwas als ein Fehler vorkommen, was im „Grunde eine Schönheit iſt. Es würde alſo „ein ſehr gefährliches Unternehmen ſeyn, die „Stellen im Euripides anzeigen zu wollen, wel- „che Ariſtoteles dieſem Tadel unterworfen zu „ſeyn, geglaubt hatte. Aber gleichwohl will „ich es wagen, eine anzuführen, die, wenn ich „ſie auch ſchon nicht nach aller Gerechtigkeit kri- „tiſiren ſollte, wenigſten meine Meinung zu er- „läutern, dienen kann.
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„Aber deutlich und zuverläßig zu wiſſen, wie
„weit und in welchem Grade von Stärke ſich
„dieſer oder jener Charakter, bey beſondern Ge-
„legenheiten, wahrſcheinlicher Weiſe äußern
„würde, das iſt einzig und allein eine Frucht
„von unſerer Kenntniß der Welt. Daß Bey-
„ſpiele von dem Mangel dieſer Kenntniß, bey
„einem Dichter, wie Euripides war, ſehr häu-
„fig ſollten geweſen ſeyn, läßt ſich nicht wohl
„annehmen: auch werden, wo ſich dergleichen
„in ſeinen übrig gebliebenen Stücken etwa fin-
„den ſollten, ſie ſchwerlich ſo offenbar ſeyn, daß
„ſie auch einem gemeinen Leſer in die Augen
„fallen müßten. Es können nur Feinheiten
„ſeyn, die allein der wahre Kunſtrichter zu un-
„terſcheiden vermögend iſt; und auch dieſem
„kann, in einer ſolchen Entfernung von Zeit,
„aus Unwiſſenheit der griechiſchen Sitten, wohl
„etwas als ein Fehler vorkommen, was im
„Grunde eine Schönheit iſt. Es würde alſo
„ein ſehr gefährliches Unternehmen ſeyn, die
„Stellen im Euripides anzeigen zu wollen, wel-
„che Ariſtoteles dieſem Tadel unterworfen zu
„ſeyn, geglaubt hatte. Aber gleichwohl will
„ich es wagen, eine anzuführen, die, wenn ich
„ſie auch ſchon nicht nach aller Gerechtigkeit kri-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/342>, abgerufen am 22.11.2024.
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