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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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Jn der ersten Bedeutung heißt ein allge-
meiner
Charakter ein solcher, in welchen man
das, was man an mehrern oder allen Jndivi-
duis bemerkt hat, zusammen nimmt; es heißt
mit einem Worte, ein überladener Cha-
rakter; es ist mehr die personifirte Jdee eines
Charakters, als eine charakterisirte Person.
Jn der andern Bedeutung aber heißt ein all-
gemeiner
Charakter ein solcher, in welchem
man von dem, was an mehrern oder allen Jn-
dividuis bemerkt worden, einen gewissen Durch-
schnitt, eine mittlere Proportion angenommen;
es heißt mit einem Worte, ein gewöhnlicher
Charakter, nicht zwar in so fern der Charakter
selbst, sondern nur in so fern der Grad, das
Maaß desselben gewöhnlich ist.

Hurd hat vollkommen Recht, das katholou
des Aristoteles von der Allgemeinheit in der
zweyten Bedeutung zu erklären. Aber wenn
denn nun Aristoteles diese Allgemeinheit eben
sowohl von den komischen als tragischen Cha-
rakteren erfodert: wie ist es möglich, daß der
nehmliche Charakter zugleich auch jene Allge-
meinheit haben kann? Wie ist es möglich, daß
er zugleich überladen und gewöhnlich seyn
kann? Und gesetzt auch, er wäre so überladen
noch lange nicht, als es die Charaktere in dem
getadelten Stücke des Johnson sind; gesetzt, er
ließe sich noch gar wohl in einem Jndividuo ge-

denken,

Jn der erſten Bedeutung heißt ein allge-
meiner
Charakter ein ſolcher, in welchen man
das, was man an mehrern oder allen Jndivi-
duis bemerkt hat, zuſammen nimmt; es heißt
mit einem Worte, ein überladener Cha-
rakter; es iſt mehr die perſonifirte Jdee eines
Charakters, als eine charakteriſirte Perſon.
Jn der andern Bedeutung aber heißt ein all-
gemeiner
Charakter ein ſolcher, in welchem
man von dem, was an mehrern oder allen Jn-
dividuis bemerkt worden, einen gewiſſen Durch-
ſchnitt, eine mittlere Proportion angenommen;
es heißt mit einem Worte, ein gewöhnlicher
Charakter, nicht zwar in ſo fern der Charakter
ſelbſt, ſondern nur in ſo fern der Grad, das
Maaß deſſelben gewöhnlich iſt.

Hurd hat vollkommen Recht, das ϰαϑολου
des Ariſtoteles von der Allgemeinheit in der
zweyten Bedeutung zu erklären. Aber wenn
denn nun Ariſtoteles dieſe Allgemeinheit eben
ſowohl von den komiſchen als tragiſchen Cha-
rakteren erfodert: wie iſt es möglich, daß der
nehmliche Charakter zugleich auch jene Allge-
meinheit haben kann? Wie iſt es möglich, daß
er zugleich überladen und gewöhnlich ſeyn
kann? Und geſetzt auch, er wäre ſo überladen
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[343/0349] Jn der erſten Bedeutung heißt ein allge- meiner Charakter ein ſolcher, in welchen man das, was man an mehrern oder allen Jndivi- duis bemerkt hat, zuſammen nimmt; es heißt mit einem Worte, ein überladener Cha- rakter; es iſt mehr die perſonifirte Jdee eines Charakters, als eine charakteriſirte Perſon. Jn der andern Bedeutung aber heißt ein all- gemeiner Charakter ein ſolcher, in welchem man von dem, was an mehrern oder allen Jn- dividuis bemerkt worden, einen gewiſſen Durch- ſchnitt, eine mittlere Proportion angenommen; es heißt mit einem Worte, ein gewöhnlicher Charakter, nicht zwar in ſo fern der Charakter ſelbſt, ſondern nur in ſo fern der Grad, das Maaß deſſelben gewöhnlich iſt. Hurd hat vollkommen Recht, das ϰαϑολου des Ariſtoteles von der Allgemeinheit in der zweyten Bedeutung zu erklären. Aber wenn denn nun Ariſtoteles dieſe Allgemeinheit eben ſowohl von den komiſchen als tragiſchen Cha- rakteren erfodert: wie iſt es möglich, daß der nehmliche Charakter zugleich auch jene Allge- meinheit haben kann? Wie iſt es möglich, daß er zugleich überladen und gewöhnlich ſeyn kann? Und geſetzt auch, er wäre ſo überladen noch lange nicht, als es die Charaktere in dem getadelten Stücke des Johnſon ſind; geſetzt, er ließe ſich noch gar wohl in einem Jndividuo ge- denken,

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/349>, abgerufen am 21.11.2024.