Daher kömmt es denn auch, daß unsere schöne Litteratur, ich will nicht blos sagen gegen die schöne Litteratur der Alten, sondern sogar fast gegen aller neuern polirten Völker ihre, ein so jugendliches, ja kindisches Ansehen hat, und noch lange, lange haben wird. An Blut und Leben, an Farbe und Feuer fehlet es ihr endlich nicht: aber Kräfte und Nerven, Mark und Knochen mangeln ihr noch sehr. Sie hat noch so wenig Werke, die ein Mann, der im Denken geübt ist, gern zur Hand nimmt, wenn er, zu seiner Erhohlung und Stärkung, einmal außer dem einförmigen eckeln Zirkel seiner alltäglichen Beschäftigungen denken will! Welche Nahrung kann so ein Mann wohl, z. E. in unsern höchst trivialen Komödien finden? Wortspiele, Sprich- wörter, Späßchen, wie man sie alle Tage auf den Gassen hört: solches Zeug macht zwar das Parterr zu lachen, das sich vergnügt so gut es kann; wer aber von ihm mehr als den Bauch erschüttern will, wer zugleich mit seinem Ver- stande lachen will, der ist einmal da gewesen und kömmt nicht wieder.
Wer nichts hat, der kann nichts geben. Ein junger Mensch, der erst selbst in die Welt tritt, kann unmöglich die Welt kennen und sie schil- dern. Das größte komische Genie zeigt sich in seinen jugendlichen Werken hohl und leer; selbst von den ersten Stücken des Menanders sagt
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Daher kömmt es denn auch, daß unſere ſchöne Litteratur, ich will nicht blos ſagen gegen die ſchöne Litteratur der Alten, ſondern ſogar faſt gegen aller neuern polirten Völker ihre, ein ſo jugendliches, ja kindiſches Anſehen hat, und noch lange, lange haben wird. An Blut und Leben, an Farbe und Feuer fehlet es ihr endlich nicht: aber Kräfte und Nerven, Mark und Knochen mangeln ihr noch ſehr. Sie hat noch ſo wenig Werke, die ein Mann, der im Denken geübt iſt, gern zur Hand nimmt, wenn er, zu ſeiner Erhohlung und Stärkung, einmal außer dem einförmigen eckeln Zirkel ſeiner alltäglichen Beſchäftigungen denken will! Welche Nahrung kann ſo ein Mann wohl, z. E. in unſern höchſt trivialen Komödien finden? Wortſpiele, Sprich- wörter, Späßchen, wie man ſie alle Tage auf den Gaſſen hört: ſolches Zeug macht zwar das Parterr zu lachen, das ſich vergnügt ſo gut es kann; wer aber von ihm mehr als den Bauch erſchüttern will, wer zugleich mit ſeinem Ver- ſtande lachen will, der iſt einmal da geweſen und kömmt nicht wieder.
Wer nichts hat, der kann nichts geben. Ein junger Menſch, der erſt ſelbſt in die Welt tritt, kann unmöglich die Welt kennen und ſie ſchil- dern. Das größte komiſche Genie zeigt ſich in ſeinen jugendlichen Werken hohl und leer; ſelbſt von den erſten Stücken des Menanders ſagt
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Daher kömmt es denn auch, daß unſere
ſchöne Litteratur, ich will nicht blos ſagen gegen
die ſchöne Litteratur der Alten, ſondern ſogar
faſt gegen aller neuern polirten Völker ihre, ein
ſo jugendliches, ja kindiſches Anſehen hat, und
noch lange, lange haben wird. An Blut und
Leben, an Farbe und Feuer fehlet es ihr endlich
nicht: aber Kräfte und Nerven, Mark und
Knochen mangeln ihr noch ſehr. Sie hat noch
ſo wenig Werke, die ein Mann, der im Denken
geübt iſt, gern zur Hand nimmt, wenn er, zu
ſeiner Erhohlung und Stärkung, einmal außer
dem einförmigen eckeln Zirkel ſeiner alltäglichen
Beſchäftigungen denken will! Welche Nahrung
kann ſo ein Mann wohl, z. E. in unſern höchſt
trivialen Komödien finden? Wortſpiele, Sprich-
wörter, Späßchen, wie man ſie alle Tage auf
den Gaſſen hört: ſolches Zeug macht zwar das
Parterr zu lachen, das ſich vergnügt ſo gut es
kann; wer aber von ihm mehr als den Bauch
erſchüttern will, wer zugleich mit ſeinem Ver-
ſtande lachen will, der iſt einmal da geweſen und
kömmt nicht wieder.
Wer nichts hat, der kann nichts geben. Ein
junger Menſch, der erſt ſelbſt in die Welt tritt,
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/353>, abgerufen am 22.11.2024.
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