Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

daraus? Dieses: daß sich auch ohne diese Re-
geln der Zweck der Tragödie erreichen lasse; ja
daß diese Regeln wohl gar Schuld seyn könnten,
wenn man ihn weniger erreiche.

Und das hätte noch hingehen mögen! -- Aber
mit diesen Regeln fing man an, alle Re-
geln zu vermengen, und es überhaupt für Pe-
danterey zu erklären, dem Genie vorzuschreiben,
was es thun, und was es nicht thun müsse.
Kurz, wir waren auf dem Punkte, uns alle Er-
fahrungen der vergangnen Zeit muthwillig zu
verscherzen; und von den Dichtern lieber zu ver-
langen, daß jeder die Kunst aufs neue für sich
erfinden solle.

Jch wäre eitel genug, mir einiges Verdienst
um unser Theater beyzumessen, wenn ich glau-
ben dürfte, das einzige Mittel getroffen zu ha-
ben, diese Gährung des Geschmacks zu hem-
men. Darauf los gearbeitet zu haben, darf
ich mir wenigstens schmeicheln, indem ich mir
nicht angelegner seyn lassen, als den Wahn von
der Regelmäßigkeit der französischen Bühne zu
bestreiten. Gerade keine Nation hat die Regeln
des alten Drama mehr verkannt, als die Fran-
zosen. Einige beyläuffige Bemerkungen, die
sie über die schicklichste äußere Einrichtung des
Drama bey dem Aristoteles fanden, haben sie

für

daraus? Dieſes: daß ſich auch ohne dieſe Re-
geln der Zweck der Tragödie erreichen laſſe; ja
daß dieſe Regeln wohl gar Schuld ſeyn könnten,
wenn man ihn weniger erreiche.

Und das hätte noch hingehen mögen! — Aber
mit dieſen Regeln fing man an, alle Re-
geln zu vermengen, und es überhaupt für Pe-
danterey zu erklären, dem Genie vorzuſchreiben,
was es thun, und was es nicht thun müſſe.
Kurz, wir waren auf dem Punkte, uns alle Er-
fahrungen der vergangnen Zeit muthwillig zu
verſcherzen; und von den Dichtern lieber zu ver-
langen, daß jeder die Kunſt aufs neue für ſich
erfinden ſolle.

Jch wäre eitel genug, mir einiges Verdienſt
um unſer Theater beyzumeſſen, wenn ich glau-
ben dürfte, das einzige Mittel getroffen zu ha-
ben, dieſe Gährung des Geſchmacks zu hem-
men. Darauf los gearbeitet zu haben, darf
ich mir wenigſtens ſchmeicheln, indem ich mir
nicht angelegner ſeyn laſſen, als den Wahn von
der Regelmäßigkeit der franzöſiſchen Bühne zu
beſtreiten. Gerade keine Nation hat die Regeln
des alten Drama mehr verkannt, als die Fran-
zoſen. Einige beyläuffige Bemerkungen, die
ſie über die ſchicklichſte äußere Einrichtung des
Drama bey dem Ariſtoteles fanden, haben ſie

für
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0404" n="398"/>
daraus? Die&#x017F;es: daß &#x017F;ich auch ohne die&#x017F;e Re-<lb/>
geln der Zweck der Tragödie erreichen la&#x017F;&#x017F;e; ja<lb/>
daß die&#x017F;e Regeln wohl gar Schuld &#x017F;eyn könnten,<lb/>
wenn man ihn weniger erreiche.</p><lb/>
        <p>Und das hätte noch hingehen mögen! &#x2014; Aber<lb/>
mit <hi rendition="#g">die&#x017F;en</hi> Regeln fing man an, <hi rendition="#g">alle</hi> Re-<lb/>
geln zu vermengen, und es überhaupt für Pe-<lb/>
danterey zu erklären, dem Genie vorzu&#x017F;chreiben,<lb/>
was es thun, und was es nicht thun mü&#x017F;&#x017F;e.<lb/>
Kurz, wir waren auf dem Punkte, uns alle Er-<lb/>
fahrungen der vergangnen Zeit muthwillig zu<lb/>
ver&#x017F;cherzen; und von den Dichtern lieber zu ver-<lb/>
langen, daß jeder die Kun&#x017F;t aufs neue für &#x017F;ich<lb/>
erfinden &#x017F;olle.</p><lb/>
        <p>Jch wäre eitel genug, mir einiges Verdien&#x017F;t<lb/>
um un&#x017F;er Theater beyzume&#x017F;&#x017F;en, wenn ich glau-<lb/>
ben dürfte, das einzige Mittel getroffen zu ha-<lb/>
ben, die&#x017F;e Gährung des Ge&#x017F;chmacks zu hem-<lb/>
men. Darauf los gearbeitet zu haben, darf<lb/>
ich mir wenig&#x017F;tens &#x017F;chmeicheln, indem ich mir<lb/>
nicht angelegner &#x017F;eyn la&#x017F;&#x017F;en, als den Wahn von<lb/>
der Regelmäßigkeit der franzö&#x017F;i&#x017F;chen Bühne zu<lb/>
be&#x017F;treiten. Gerade keine Nation hat die Regeln<lb/>
des alten Drama mehr verkannt, als die Fran-<lb/>
zo&#x017F;en. Einige beyläuffige Bemerkungen, die<lb/>
&#x017F;ie über die &#x017F;chicklich&#x017F;te äußere Einrichtung des<lb/>
Drama bey dem Ari&#x017F;toteles fanden, haben &#x017F;ie<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">für</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[398/0404] daraus? Dieſes: daß ſich auch ohne dieſe Re- geln der Zweck der Tragödie erreichen laſſe; ja daß dieſe Regeln wohl gar Schuld ſeyn könnten, wenn man ihn weniger erreiche. Und das hätte noch hingehen mögen! — Aber mit dieſen Regeln fing man an, alle Re- geln zu vermengen, und es überhaupt für Pe- danterey zu erklären, dem Genie vorzuſchreiben, was es thun, und was es nicht thun müſſe. Kurz, wir waren auf dem Punkte, uns alle Er- fahrungen der vergangnen Zeit muthwillig zu verſcherzen; und von den Dichtern lieber zu ver- langen, daß jeder die Kunſt aufs neue für ſich erfinden ſolle. Jch wäre eitel genug, mir einiges Verdienſt um unſer Theater beyzumeſſen, wenn ich glau- ben dürfte, das einzige Mittel getroffen zu ha- ben, dieſe Gährung des Geſchmacks zu hem- men. Darauf los gearbeitet zu haben, darf ich mir wenigſtens ſchmeicheln, indem ich mir nicht angelegner ſeyn laſſen, als den Wahn von der Regelmäßigkeit der franzöſiſchen Bühne zu beſtreiten. Gerade keine Nation hat die Regeln des alten Drama mehr verkannt, als die Fran- zoſen. Einige beyläuffige Bemerkungen, die ſie über die ſchicklichſte äußere Einrichtung des Drama bey dem Ariſtoteles fanden, haben ſie für

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/404
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/404>, abgerufen am 18.12.2024.