Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Schritt entfernen kann, ohne sich eben so weit
von ihrer Vollkommenheit zu entfernen.

Nach dieser Ueberzeugung nahm ich mir vor,
einige der berühmtesten Muster der französischen
Bühne ausführlich zu beurtheilen. Denn diese
Bühne soll ganz nach den Regeln des Aristote-
les gebildet seyn; und besonders hat man uns
Deutsche bereden wollen, daß sie nur durch diese
Regeln die Stuffe der Vollkommenheit erreicht
habe, auf welcher sie die Bühnen aller neuern
Völker so weit unter sich erblicke. Wir haben
das auch lange so fest geglaubt, daß bey unsern
Dichtern, den Franzosen nachahmen, eben so
viel gewesen ist, als nach den Regeln der Alten
arbeiten.

Jndeß konnte das Vorurtheil nicht ewig
gegen unser Gefühl bestehen. Dieses ward,
glücklicher Weise, durch einige Englische Stücke
aus seinem Schlummer erwecket, und wir mach-
ten endlich die Erfahrung, daß die Tragödie
noch einer ganz andern Wirkung fähig sey, als
ihr Corneille und Racine zu ertheilen vermocht.
Aber geblendet von diesem plötzlichen Strahle
der Wahrheit, prallten wir gegen den Rand
eines andern Abgrundes zurück. Den engli-
schen Stücken fehlten zu augenscheinlich gewisse
Regeln, mit welchen uns die Französischen so
bekannt gemacht hatten. Was schloß man

dar-
D d d

Schritt entfernen kann, ohne ſich eben ſo weit
von ihrer Vollkommenheit zu entfernen.

Nach dieſer Ueberzeugung nahm ich mir vor,
einige der berühmteſten Muſter der franzöſiſchen
Bühne ausführlich zu beurtheilen. Denn dieſe
Bühne ſoll ganz nach den Regeln des Ariſtote-
les gebildet ſeyn; und beſonders hat man uns
Deutſche bereden wollen, daß ſie nur durch dieſe
Regeln die Stuffe der Vollkommenheit erreicht
habe, auf welcher ſie die Bühnen aller neuern
Völker ſo weit unter ſich erblicke. Wir haben
das auch lange ſo feſt geglaubt, daß bey unſern
Dichtern, den Franzoſen nachahmen, eben ſo
viel geweſen iſt, als nach den Regeln der Alten
arbeiten.

Jndeß konnte das Vorurtheil nicht ewig
gegen unſer Gefühl beſtehen. Dieſes ward,
glücklicher Weiſe, durch einige Engliſche Stücke
aus ſeinem Schlummer erwecket, und wir mach-
ten endlich die Erfahrung, daß die Tragödie
noch einer ganz andern Wirkung fähig ſey, als
ihr Corneille und Racine zu ertheilen vermocht.
Aber geblendet von dieſem plötzlichen Strahle
der Wahrheit, prallten wir gegen den Rand
eines andern Abgrundes zurück. Den engli-
ſchen Stücken fehlten zu augenſcheinlich gewiſſe
Regeln, mit welchen uns die Franzöſiſchen ſo
bekannt gemacht hatten. Was ſchloß man

dar-
D d d
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0403" n="397"/>
Schritt entfernen kann, ohne &#x017F;ich eben &#x017F;o weit<lb/>
von ihrer Vollkommenheit zu entfernen.</p><lb/>
        <p>Nach die&#x017F;er Ueberzeugung nahm ich mir vor,<lb/>
einige der berühmte&#x017F;ten Mu&#x017F;ter der franzö&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Bühne ausführlich zu beurtheilen. Denn die&#x017F;e<lb/>
Bühne &#x017F;oll ganz nach den Regeln des Ari&#x017F;tote-<lb/>
les gebildet &#x017F;eyn; und be&#x017F;onders hat man uns<lb/>
Deut&#x017F;che bereden wollen, daß &#x017F;ie nur durch die&#x017F;e<lb/>
Regeln die Stuffe der Vollkommenheit erreicht<lb/>
habe, auf welcher &#x017F;ie die Bühnen aller neuern<lb/>
Völker &#x017F;o weit unter &#x017F;ich erblicke. Wir haben<lb/>
das auch lange &#x017F;o fe&#x017F;t geglaubt, daß bey un&#x017F;ern<lb/>
Dichtern, den Franzo&#x017F;en nachahmen, eben &#x017F;o<lb/>
viel gewe&#x017F;en i&#x017F;t, als nach den Regeln der Alten<lb/>
arbeiten.</p><lb/>
        <p>Jndeß konnte das Vorurtheil nicht ewig<lb/>
gegen un&#x017F;er Gefühl be&#x017F;tehen. Die&#x017F;es ward,<lb/>
glücklicher Wei&#x017F;e, durch einige Engli&#x017F;che Stücke<lb/>
aus &#x017F;einem Schlummer erwecket, und wir mach-<lb/>
ten endlich die Erfahrung, daß die Tragödie<lb/>
noch einer ganz andern Wirkung fähig &#x017F;ey, als<lb/>
ihr Corneille und Racine zu ertheilen vermocht.<lb/>
Aber geblendet von die&#x017F;em plötzlichen Strahle<lb/>
der Wahrheit, prallten wir gegen den Rand<lb/>
eines andern Abgrundes zurück. Den engli-<lb/>
&#x017F;chen Stücken fehlten zu augen&#x017F;cheinlich gewi&#x017F;&#x017F;e<lb/>
Regeln, mit welchen uns die Franzö&#x017F;i&#x017F;chen &#x017F;o<lb/>
bekannt gemacht hatten. Was &#x017F;chloß man<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D d d</fw><fw place="bottom" type="catch">dar-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[397/0403] Schritt entfernen kann, ohne ſich eben ſo weit von ihrer Vollkommenheit zu entfernen. Nach dieſer Ueberzeugung nahm ich mir vor, einige der berühmteſten Muſter der franzöſiſchen Bühne ausführlich zu beurtheilen. Denn dieſe Bühne ſoll ganz nach den Regeln des Ariſtote- les gebildet ſeyn; und beſonders hat man uns Deutſche bereden wollen, daß ſie nur durch dieſe Regeln die Stuffe der Vollkommenheit erreicht habe, auf welcher ſie die Bühnen aller neuern Völker ſo weit unter ſich erblicke. Wir haben das auch lange ſo feſt geglaubt, daß bey unſern Dichtern, den Franzoſen nachahmen, eben ſo viel geweſen iſt, als nach den Regeln der Alten arbeiten. Jndeß konnte das Vorurtheil nicht ewig gegen unſer Gefühl beſtehen. Dieſes ward, glücklicher Weiſe, durch einige Engliſche Stücke aus ſeinem Schlummer erwecket, und wir mach- ten endlich die Erfahrung, daß die Tragödie noch einer ganz andern Wirkung fähig ſey, als ihr Corneille und Racine zu ertheilen vermocht. Aber geblendet von dieſem plötzlichen Strahle der Wahrheit, prallten wir gegen den Rand eines andern Abgrundes zurück. Den engli- ſchen Stücken fehlten zu augenſcheinlich gewiſſe Regeln, mit welchen uns die Franzöſiſchen ſo bekannt gemacht hatten. Was ſchloß man dar- D d d

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/403
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/403>, abgerufen am 09.11.2024.