Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

Bild:
<< vorherige Seite

wahrlich der Dichter die fictae causae des Wolfs sehr
vergebens, sehr für die lange Weile erfunden; seine
Fabel sagte mehr, als er damit hätte sagen wollen,
und wäre, mit einem Worte, schlecht.

Ich will mich nicht in mehrere Exempel zerstreuen.
Man untersuche es nur selbst, und man wird durch-
gängig finden, daß es bloß von der Beschaffenheit
des Lehrsatzes abhängt, ob die Fabel eine solche
Handlung, wie sie Batteux ohne Ausnahme fodert,
haben muß oder entbehren kann. Der Lehrsatz der
itzt erwehnten Fabel des Phädrus, machte sie
wie wir gesehen, nothwendig; aber thun es deswe-
gen alle Lehrsätze? Sind alle Lehrsätze von dieser
Art? Oder haben allein die, welche es sind, das
Recht, in eine Fabel eingekleidet zu werden? Ist z. E.
der Erfahrungssatz:

Laudatis utiliora quae contemseris
Saepe inveniri

nicht werth, in einem einzeln Falle, welcher die
Stelle einer Demonstration vertreten kann, er-
kannt zu werden? Und wenn er es ist, was für ein
Unternehmen, was für eine Absicht, was für eine

Wahl

wahrlich der Dichter die fictæ cauſæ des Wolfs ſehr
vergebens, ſehr für die lange Weile erfunden; ſeine
Fabel ſagte mehr, als er damit hätte ſagen wollen,
und wäre, mit einem Worte, ſchlecht.

Ich will mich nicht in mehrere Exempel zerſtreuen.
Man unterſuche es nur ſelbſt, und man wird durch-
gängig finden, daß es bloß von der Beſchaffenheit
des Lehrſatzes abhängt, ob die Fabel eine ſolche
Handlung, wie ſie Batteux ohne Ausnahme fodert,
haben muß oder entbehren kann. Der Lehrſatz der
itzt erwehnten Fabel des Phädrus, machte ſie
wie wir geſehen, nothwendig; aber thun es deswe-
gen alle Lehrſätze? Sind alle Lehrſätze von dieſer
Art? Oder haben allein die, welche es ſind, das
Recht, in eine Fabel eingekleidet zu werden? Iſt z. E.
der Erfahrungsſatz:

Laudatis utiliora quæ contemſeris
Sæpe inveniri

nicht werth, in einem einzeln Falle, welcher die
Stelle einer Demonſtration vertreten kann, er-
kannt zu werden? Und wenn er es iſt, was für ein
Unternehmen, was für eine Abſicht, was für eine

Wahl
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0170" n="150"/>
wahrlich der Dichter die <hi rendition="#aq">fictæ cau&#x017F;æ</hi> des Wolfs &#x017F;ehr<lb/>
vergebens, &#x017F;ehr für die lange Weile erfunden; &#x017F;eine<lb/>
Fabel &#x017F;agte mehr, als er damit hätte &#x017F;agen wollen,<lb/>
und wäre, mit einem Worte, &#x017F;chlecht.</p><lb/>
            <p>Ich will mich nicht in mehrere Exempel zer&#x017F;treuen.<lb/>
Man unter&#x017F;uche es nur &#x017F;elb&#x017F;t, und man wird durch-<lb/>
gängig finden, daß es bloß von der Be&#x017F;chaffenheit<lb/>
des Lehr&#x017F;atzes abhängt, ob die Fabel eine &#x017F;olche<lb/>
Handlung, wie &#x017F;ie <hi rendition="#fr">Batteux</hi> ohne Ausnahme fodert,<lb/>
haben muß oder entbehren kann. Der Lehr&#x017F;atz der<lb/>
itzt erwehnten Fabel des <hi rendition="#fr">Phädrus</hi>, machte &#x017F;ie<lb/>
wie wir ge&#x017F;ehen, nothwendig; aber thun es deswe-<lb/>
gen alle Lehr&#x017F;ätze? Sind alle Lehr&#x017F;ätze von die&#x017F;er<lb/>
Art? Oder haben allein die, welche es &#x017F;ind, das<lb/>
Recht, in eine Fabel eingekleidet zu werden? I&#x017F;t z. E.<lb/>
der Erfahrungs&#x017F;atz:</p><lb/>
            <cit>
              <quote> <hi rendition="#et"> <hi rendition="#aq">Laudatis utiliora quæ contem&#x017F;eris<lb/>
Sæpe inveniri</hi> </hi> </quote>
              <bibl/>
            </cit><lb/>
            <p>nicht werth, in einem einzeln Falle, welcher die<lb/>
Stelle einer Demon&#x017F;tration vertreten kann, er-<lb/>
kannt zu werden? Und wenn er es i&#x017F;t, was für ein<lb/>
Unternehmen, was für eine Ab&#x017F;icht, was für eine<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Wahl</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[150/0170] wahrlich der Dichter die fictæ cauſæ des Wolfs ſehr vergebens, ſehr für die lange Weile erfunden; ſeine Fabel ſagte mehr, als er damit hätte ſagen wollen, und wäre, mit einem Worte, ſchlecht. Ich will mich nicht in mehrere Exempel zerſtreuen. Man unterſuche es nur ſelbſt, und man wird durch- gängig finden, daß es bloß von der Beſchaffenheit des Lehrſatzes abhängt, ob die Fabel eine ſolche Handlung, wie ſie Batteux ohne Ausnahme fodert, haben muß oder entbehren kann. Der Lehrſatz der itzt erwehnten Fabel des Phädrus, machte ſie wie wir geſehen, nothwendig; aber thun es deswe- gen alle Lehrſätze? Sind alle Lehrſätze von dieſer Art? Oder haben allein die, welche es ſind, das Recht, in eine Fabel eingekleidet zu werden? Iſt z. E. der Erfahrungsſatz: Laudatis utiliora quæ contemſeris Sæpe inveniri nicht werth, in einem einzeln Falle, welcher die Stelle einer Demonſtration vertreten kann, er- kannt zu werden? Und wenn er es iſt, was für ein Unternehmen, was für eine Abſicht, was für eine Wahl

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/170
Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/170>, abgerufen am 21.11.2024.