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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

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"durch einen sichern Eingang in das menschliche
"Herz aufzuschliessen. Nachdem man nun wahrge-
"nommen, daß allein das Seltene, Neue und Wun-
"derbare, eine solche erweckende und angenehm ent-
"zückende Kraft auf das menschliche Gemüth mit
"sich führet, so war man bedacht, die Erzehlung
"durch die Neuheit und Seltsamkeit der Vorstellun-
"gen wunderbar zu machen, und also dem Körper
"der Fabel eine ungemeine und reizende Schönheit
"beyzulegen. Die Erzehlung bestehet aus zween
"wesentlichen Hauptumständen, dem Umstande der
"Person, und der Sache oder Handlung; ohne
"diese kann keine Erzehlung Platz haben. Also muß
"das Wunderbare, welches in der Erzehlung herr-
"schen soll, sich entweder auf die Handlung selbst,
"oder auf die Personen, denen selbige zugeschrieben
"wird, beziehen. Das Wunderbare, das in den
"täglichen Geschäften und Handlungen der Men-
"schen vorkömmt, bestehet vornehmlich in dem Un-
"vermutheten, sowohl in Absicht auf die Vermessen-
"heit im Unterfangen, als die Boßheit oder Thor-
"heit im Ausführen, zuweilen auch in einem ganz
"uner-
„durch einen ſichern Eingang in das menſchliche
„Herz aufzuſchlieſſen. Nachdem man nun wahrge-
„nommen, daß allein das Seltene, Neue und Wun-
„derbare, eine ſolche erweckende und angenehm ent-
„zückende Kraft auf das menſchliche Gemüth mit
„ſich führet, ſo war man bedacht, die Erzehlung
„durch die Neuheit und Seltſamkeit der Vorſtellun-
„gen wunderbar zu machen, und alſo dem Körper
„der Fabel eine ungemeine und reizende Schönheit
„beyzulegen. Die Erzehlung beſtehet aus zween
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„Perſon, und der Sache oder Handlung; ohne
„dieſe kann keine Erzehlung Platz haben. Alſo muß
„das Wunderbare, welches in der Erzehlung herr-
„ſchen ſoll, ſich entweder auf die Handlung ſelbſt,
„oder auf die Perſonen, denen ſelbige zugeſchrieben
„wird, beziehen. Das Wunderbare, das in den
„täglichen Geſchäften und Handlungen der Men-
„ſchen vorkömmt, beſtehet vornehmlich in dem Un-
„vermutheten, ſowohl in Abſicht auf die Vermeſſen-
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[175/0195] „durch einen ſichern Eingang in das menſchliche „Herz aufzuſchlieſſen. Nachdem man nun wahrge- „nommen, daß allein das Seltene, Neue und Wun- „derbare, eine ſolche erweckende und angenehm ent- „zückende Kraft auf das menſchliche Gemüth mit „ſich führet, ſo war man bedacht, die Erzehlung „durch die Neuheit und Seltſamkeit der Vorſtellun- „gen wunderbar zu machen, und alſo dem Körper „der Fabel eine ungemeine und reizende Schönheit „beyzulegen. Die Erzehlung beſtehet aus zween „weſentlichen Hauptumſtänden, dem Umſtande der „Perſon, und der Sache oder Handlung; ohne „dieſe kann keine Erzehlung Platz haben. Alſo muß „das Wunderbare, welches in der Erzehlung herr- „ſchen ſoll, ſich entweder auf die Handlung ſelbſt, „oder auf die Perſonen, denen ſelbige zugeſchrieben „wird, beziehen. Das Wunderbare, das in den „täglichen Geſchäften und Handlungen der Men- „ſchen vorkömmt, beſtehet vornehmlich in dem Un- „vermutheten, ſowohl in Abſicht auf die Vermeſſen- „heit im Unterfangen, als die Boßheit oder Thor- „heit im Ausführen, zuweilen auch in einem ganz „uner-

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Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/195>, abgerufen am 21.11.2024.