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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

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hat. Er lieset es endlich mit eben so wenigem Er-
staunen, daß die Sonne einmal stille gestanden, als
er sie täglich auf und niedergehen sieht. Das Wun-
der bleibt immer dasselbe; aber nicht unsere Ge-
müthsverfassung, wenn wir es zu oft denken. --
Folglich würde auch die Einführung der Thiere uns
höchstens nur in den ersten Fabeln wunderbar vor-
kommen; fänden wir aber, daß die Thiere fast in
allen Fabeln sprächen und urtheilten, so würde diese
Sonderbarkeit, so groß sie auch an und vor sich
selbst wäre, doch gar bald nichts Sonderbares mehr
für uns haben.

Aber wozu alle diese Umschweiffe? Was sich auf
einmal umreissen läßt, braucht man das erst zu er-
schüttern? -- Darum kurz: daß die Thiere, und
andere niedrigern Geschöpfe, Sprache und Vernunft
haben, wird in der Fabel vorausgesetzt; es wird
angenommen; und soll nichts weniger als wunder-
bar seyn. -- Wenn ich in der Schrift lese: * "Da
"thät der Herr der Eselin den Mund auf und sie
"sprach zu Bileam etc."
so lese ich etwas wunderba-

res.
* 1 B. Mos. XXII. 28.

hat. Er lieſet es endlich mit eben ſo wenigem Er-
ſtaunen, daß die Sonne einmal ſtille geſtanden, als
er ſie täglich auf und niedergehen ſieht. Das Wun-
der bleibt immer daſſelbe; aber nicht unſere Ge-
müthsverfaſſung, wenn wir es zu oft denken. —
Folglich würde auch die Einführung der Thiere uns
höchſtens nur in den erſten Fabeln wunderbar vor-
kommen; fänden wir aber, daß die Thiere faſt in
allen Fabeln ſprächen und urtheilten, ſo würde dieſe
Sonderbarkeit, ſo groß ſie auch an und vor ſich
ſelbſt wäre, doch gar bald nichts Sonderbares mehr
für uns haben.

Aber wozu alle dieſe Umſchweiffe? Was ſich auf
einmal umreiſſen läßt, braucht man das erſt zu er-
ſchüttern? — Darum kurz: daß die Thiere, und
andere niedrigern Geſchöpfe, Sprache und Vernunft
haben, wird in der Fabel vorausgeſetzt; es wird
angenommen; und ſoll nichts weniger als wunder-
bar ſeyn. — Wenn ich in der Schrift leſe: * „Da
„thät der Herr der Eſelin den Mund auf und ſie
„ſprach zu Bileam ꝛc.“
ſo leſe ich etwas wunderba-

res.
* 1 B. Moſ. XXII. 28.
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[180/0200] hat. Er lieſet es endlich mit eben ſo wenigem Er- ſtaunen, daß die Sonne einmal ſtille geſtanden, als er ſie täglich auf und niedergehen ſieht. Das Wun- der bleibt immer daſſelbe; aber nicht unſere Ge- müthsverfaſſung, wenn wir es zu oft denken. — Folglich würde auch die Einführung der Thiere uns höchſtens nur in den erſten Fabeln wunderbar vor- kommen; fänden wir aber, daß die Thiere faſt in allen Fabeln ſprächen und urtheilten, ſo würde dieſe Sonderbarkeit, ſo groß ſie auch an und vor ſich ſelbſt wäre, doch gar bald nichts Sonderbares mehr für uns haben. Aber wozu alle dieſe Umſchweiffe? Was ſich auf einmal umreiſſen läßt, braucht man das erſt zu er- ſchüttern? — Darum kurz: daß die Thiere, und andere niedrigern Geſchöpfe, Sprache und Vernunft haben, wird in der Fabel vorausgeſetzt; es wird angenommen; und ſoll nichts weniger als wunder- bar ſeyn. — Wenn ich in der Schrift leſe: * „Da „thät der Herr der Eſelin den Mund auf und ſie „ſprach zu Bileam ꝛc.“ ſo leſe ich etwas wunderba- res. * 1 B. Moſ. XXII. 28.

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Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/200>, abgerufen am 21.11.2024.