der Fabulist die Erregung der Leidenschaften so viel als möglich vermeiden. Wie kann er aber anders, z. E. die Erregung des Mitleids vermeiden, als wenn er die Gegenstände desselben unvollkommener macht, und anstatt der Menschen Thiere, oder noch geringere Geschöpfe annimmt? Man erinnere sich noch einmal der Fabel von dem Wolfe und Lam- me, wie sie oben in die Fabel von dem Priester und dem armen Manne des Propheten verwandelt worden. Wir haben Mitleiden mit dem Lamme; aber dieses Mitleiden ist so schwach, daß es unserer anschauenden Erkenntniß des moralischen Satzes keinen merklichen Eintrag thut. Hingegen wie ist es mit dem armen Manne? Kömmt es mir nur so vor, oder ist es wirklich wahr, daß wir mit diesem viel zu viel Mitleiden haben, und gegen den Prie- ster viel zu viel Unwillen empfinden, als daß die an- schauende Erkenntniß des moralischen Satzes hier eben so klar seyn könnte, als sie dort ist?
III. Von
der Fabuliſt die Erregung der Leidenſchaften ſo viel als möglich vermeiden. Wie kann er aber anders, z. E. die Erregung des Mitleids vermeiden, als wenn er die Gegenſtände deſſelben unvollkommener macht, und anſtatt der Menſchen Thiere, oder noch geringere Geſchöpfe annimmt? Man erinnere ſich noch einmal der Fabel von dem Wolfe und Lam- me, wie ſie oben in die Fabel von dem Prieſter und dem armen Manne des Propheten verwandelt worden. Wir haben Mitleiden mit dem Lamme; aber dieſes Mitleiden iſt ſo ſchwach, daß es unſerer anſchauenden Erkenntniß des moraliſchen Satzes keinen merklichen Eintrag thut. Hingegen wie iſt es mit dem armen Manne? Kömmt es mir nur ſo vor, oder iſt es wirklich wahr, daß wir mit dieſem viel zu viel Mitleiden haben, und gegen den Prie- ſter viel zu viel Unwillen empfinden, als daß die an- ſchauende Erkenntniß des moraliſchen Satzes hier eben ſo klar ſeyn könnte, als ſie dort iſt?
III. Von
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0210"n="190"/>
der Fabuliſt die Erregung der Leidenſchaften ſo viel<lb/>
als möglich vermeiden. Wie kann er aber anders,<lb/>
z. E. die Erregung des Mitleids vermeiden, als<lb/>
wenn er die Gegenſtände deſſelben unvollkommener<lb/>
macht, und anſtatt der Menſchen Thiere, oder noch<lb/>
geringere Geſchöpfe annimmt? Man erinnere ſich<lb/>
noch einmal der Fabel von dem <hirendition="#fr">Wolfe und Lam-<lb/>
me,</hi> wie ſie oben in die Fabel von dem <hirendition="#fr">Prieſter und<lb/>
dem armen Manne des Propheten</hi> verwandelt<lb/>
worden. Wir haben Mitleiden mit dem Lamme;<lb/>
aber dieſes Mitleiden iſt ſo ſchwach, daß es unſerer<lb/>
anſchauenden Erkenntniß des moraliſchen Satzes<lb/>
keinen merklichen Eintrag thut. Hingegen wie iſt es<lb/>
mit dem armen Manne? Kömmt es mir nur ſo<lb/>
vor, oder iſt es wirklich wahr, daß wir mit dieſem<lb/>
viel zu viel Mitleiden haben, und gegen den Prie-<lb/>ſter viel zu viel Unwillen empfinden, als daß die an-<lb/>ſchauende Erkenntniß des moraliſchen Satzes hier<lb/>
eben ſo klar ſeyn könnte, als ſie dort iſt?</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#aq">III.</hi> Von</fw><lb/></div></body></text></TEI>
[190/0210]
der Fabuliſt die Erregung der Leidenſchaften ſo viel
als möglich vermeiden. Wie kann er aber anders,
z. E. die Erregung des Mitleids vermeiden, als
wenn er die Gegenſtände deſſelben unvollkommener
macht, und anſtatt der Menſchen Thiere, oder noch
geringere Geſchöpfe annimmt? Man erinnere ſich
noch einmal der Fabel von dem Wolfe und Lam-
me, wie ſie oben in die Fabel von dem Prieſter und
dem armen Manne des Propheten verwandelt
worden. Wir haben Mitleiden mit dem Lamme;
aber dieſes Mitleiden iſt ſo ſchwach, daß es unſerer
anſchauenden Erkenntniß des moraliſchen Satzes
keinen merklichen Eintrag thut. Hingegen wie iſt es
mit dem armen Manne? Kömmt es mir nur ſo
vor, oder iſt es wirklich wahr, daß wir mit dieſem
viel zu viel Mitleiden haben, und gegen den Prie-
ſter viel zu viel Unwillen empfinden, als daß die an-
ſchauende Erkenntniß des moraliſchen Satzes hier
eben ſo klar ſeyn könnte, als ſie dort iſt?
III. Von
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/210>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.