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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

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der Fabulist die Erregung der Leidenschaften so viel
als möglich vermeiden. Wie kann er aber anders,
z. E. die Erregung des Mitleids vermeiden, als
wenn er die Gegenstände desselben unvollkommener
macht, und anstatt der Menschen Thiere, oder noch
geringere Geschöpfe annimmt? Man erinnere sich
noch einmal der Fabel von dem Wolfe und Lam-
me,
wie sie oben in die Fabel von dem Priester und
dem armen Manne des Propheten
verwandelt
worden. Wir haben Mitleiden mit dem Lamme;
aber dieses Mitleiden ist so schwach, daß es unserer
anschauenden Erkenntniß des moralischen Satzes
keinen merklichen Eintrag thut. Hingegen wie ist es
mit dem armen Manne? Kömmt es mir nur so
vor, oder ist es wirklich wahr, daß wir mit diesem
viel zu viel Mitleiden haben, und gegen den Prie-
ster viel zu viel Unwillen empfinden, als daß die an-
schauende Erkenntniß des moralischen Satzes hier
eben so klar seyn könnte, als sie dort ist?



III. Von

der Fabuliſt die Erregung der Leidenſchaften ſo viel
als möglich vermeiden. Wie kann er aber anders,
z. E. die Erregung des Mitleids vermeiden, als
wenn er die Gegenſtände deſſelben unvollkommener
macht, und anſtatt der Menſchen Thiere, oder noch
geringere Geſchöpfe annimmt? Man erinnere ſich
noch einmal der Fabel von dem Wolfe und Lam-
me,
wie ſie oben in die Fabel von dem Prieſter und
dem armen Manne des Propheten
verwandelt
worden. Wir haben Mitleiden mit dem Lamme;
aber dieſes Mitleiden iſt ſo ſchwach, daß es unſerer
anſchauenden Erkenntniß des moraliſchen Satzes
keinen merklichen Eintrag thut. Hingegen wie iſt es
mit dem armen Manne? Kömmt es mir nur ſo
vor, oder iſt es wirklich wahr, daß wir mit dieſem
viel zu viel Mitleiden haben, und gegen den Prie-
ſter viel zu viel Unwillen empfinden, als daß die an-
ſchauende Erkenntniß des moraliſchen Satzes hier
eben ſo klar ſeyn könnte, als ſie dort iſt?



III. Von
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[190/0210] der Fabuliſt die Erregung der Leidenſchaften ſo viel als möglich vermeiden. Wie kann er aber anders, z. E. die Erregung des Mitleids vermeiden, als wenn er die Gegenſtände deſſelben unvollkommener macht, und anſtatt der Menſchen Thiere, oder noch geringere Geſchöpfe annimmt? Man erinnere ſich noch einmal der Fabel von dem Wolfe und Lam- me, wie ſie oben in die Fabel von dem Prieſter und dem armen Manne des Propheten verwandelt worden. Wir haben Mitleiden mit dem Lamme; aber dieſes Mitleiden iſt ſo ſchwach, daß es unſerer anſchauenden Erkenntniß des moraliſchen Satzes keinen merklichen Eintrag thut. Hingegen wie iſt es mit dem armen Manne? Kömmt es mir nur ſo vor, oder iſt es wirklich wahr, daß wir mit dieſem viel zu viel Mitleiden haben, und gegen den Prie- ſter viel zu viel Unwillen empfinden, als daß die an- ſchauende Erkenntniß des moraliſchen Satzes hier eben ſo klar ſeyn könnte, als ſie dort iſt? III. Von

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Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/210>, abgerufen am 24.11.2024.