Ein Knabe spielte mit einer zahmen Schlange. Mein liebes Thierchen, sagte der Knabe, ich würde mich mit dir so gemein nicht machen, wenn dir das Gift nicht benommen wäre. Ihr Schlangen seyd die boshaftesten, undankbarsten Geschöpfe! Ich habe es wohl gelesen, wie es einem armen Land- mann ging, der eine, vielleicht von deinen Uhräl- tern, die er halb erfroren unter einer Hecke fand, mitleidig aufhob, und sie in seinen erwärmenden Busen steckte. Kaum fühlte sich die Böse wieder, als sie ihren Wohlthäter biß; und der gute freund- liche Mann mußte sterben.
Ich erstaune, sagte die Schlange. Wie par- theyisch eure Geschichtschreiber seyn müssen! Die unsrigen erzehlen diese Historie ganz anders. Dein freundlicher Mann glaubte, die Schlange sey wirk- lich erfroren, und weil es eine von den bunten Schlangen war, so steckte er sie zu sich, ihr zu Hause die schöne Haut abzustreifen. War das recht?
Ach,
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III. Der Knabe und die Schlange.
Ein Knabe ſpielte mit einer zahmen Schlange. Mein liebes Thierchen, ſagte der Knabe, ich würde mich mit dir ſo gemein nicht machen, wenn dir das Gift nicht benommen wäre. Ihr Schlangen ſeyd die boshafteſten, undankbarſten Geſchöpfe! Ich habe es wohl geleſen, wie es einem armen Land- mann ging, der eine, vielleicht von deinen Uhräl- tern, die er halb erfroren unter einer Hecke fand, mitleidig aufhob, und ſie in ſeinen erwärmenden Buſen ſteckte. Kaum fühlte ſich die Böſe wieder, als ſie ihren Wohlthäter biß; und der gute freund- liche Mann mußte ſterben.
Ich erſtaune, ſagte die Schlange. Wie par- theyiſch eure Geſchichtſchreiber ſeyn müſſen! Die unſrigen erzehlen dieſe Hiſtorie ganz anders. Dein freundlicher Mann glaubte, die Schlange ſey wirk- lich erfroren, und weil es eine von den bunten Schlangen war, ſo ſteckte er ſie zu ſich, ihr zu Hauſe die ſchöne Haut abzuſtreifen. War das recht?
Ach,
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III.
Der Knabe und die Schlange.
Ein Knabe ſpielte mit einer zahmen Schlange.
Mein liebes Thierchen, ſagte der Knabe, ich würde
mich mit dir ſo gemein nicht machen, wenn dir das
Gift nicht benommen wäre. Ihr Schlangen ſeyd
die boshafteſten, undankbarſten Geſchöpfe! Ich
habe es wohl geleſen, wie es einem armen Land-
mann ging, der eine, vielleicht von deinen Uhräl-
tern, die er halb erfroren unter einer Hecke fand,
mitleidig aufhob, und ſie in ſeinen erwärmenden
Buſen ſteckte. Kaum fühlte ſich die Böſe wieder,
als ſie ihren Wohlthäter biß; und der gute freund-
liche Mann mußte ſterben.
Ich erſtaune, ſagte die Schlange. Wie par-
theyiſch eure Geſchichtſchreiber ſeyn müſſen! Die
unſrigen erzehlen dieſe Hiſtorie ganz anders. Dein
freundlicher Mann glaubte, die Schlange ſey wirk-
lich erfroren, und weil es eine von den bunten
Schlangen war, ſo ſteckte er ſie zu ſich, ihr zu Hauſe
die ſchöne Haut abzuſtreifen. War das recht?
Ach,
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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/59>, abgerufen am 26.06.2024.
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