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Lewald, Fanny: Für und wider die Frauen. Berlin, 1870.

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Jetzt, da fast ein Menschenalter seit jenen Tagen vergangen ist, denke ich oft mit Lächeln und mit Bedauern daran zurück, wie mühsam wir dem Vorurtheile Schritt für Schritt den Boden haben abgewinnen müssen, auf dem jetzt alle Frauen unbefangen stehen, und wie wir für uns selber erst haben erringen müssen, was Alle jetzt in sorgloser Sicherheit genießen. Was war nicht Alles anstößig in früherer Zeit! Was war nicht ungeziemend für eine Frau, und vollends für ein Mädchen! Ein Mädchen durfte keine Statue ansehen, welche den Menschen nackt darstellte, und mußte vor einem Bilde mit nackten Figuren das Auge abwenden und, wenn es irgend möglich war, erschrecken und erröthen; ein Mädchen durfte allein nicht die kleinste Reise unternehmen und mußte selbst bei einer Fahrt von vier Stunden noch begleitet werden; ein Mädchen durfte schicklicher Weise nicht in ein fremdes Haus gehen, um bei einem Handwerker eine Bestellung auszurichten; selbst ein nicht mehr junges Mädchen durfte einen bedeutend älteren kranken Freund ihrer Familie nicht pflegen gehen, ihn nicht an seinem Krankenbette allein besuchen, wenn er zufällig nicht verheirathet war; und eine selbständige Meinung oder Theilnahme für das Allgemeine an den Tag zu legen, das war vollends nicht mädchenhaft und auch nicht weiblich. Wir sollten gar keine eigene Meinung haben, und es galt für ein Gebot der Weiblichkeit, jeden Satz ausdrücklich mit "ich glaube" oder mit "man sagt" anzufangen,

Jetzt, da fast ein Menschenalter seit jenen Tagen vergangen ist, denke ich oft mit Lächeln und mit Bedauern daran zurück, wie mühsam wir dem Vorurtheile Schritt für Schritt den Boden haben abgewinnen müssen, auf dem jetzt alle Frauen unbefangen stehen, und wie wir für uns selber erst haben erringen müssen, was Alle jetzt in sorgloser Sicherheit genießen. Was war nicht Alles anstößig in früherer Zeit! Was war nicht ungeziemend für eine Frau, und vollends für ein Mädchen! Ein Mädchen durfte keine Statue ansehen, welche den Menschen nackt darstellte, und mußte vor einem Bilde mit nackten Figuren das Auge abwenden und, wenn es irgend möglich war, erschrecken und erröthen; ein Mädchen durfte allein nicht die kleinste Reise unternehmen und mußte selbst bei einer Fahrt von vier Stunden noch begleitet werden; ein Mädchen durfte schicklicher Weise nicht in ein fremdes Haus gehen, um bei einem Handwerker eine Bestellung auszurichten; selbst ein nicht mehr junges Mädchen durfte einen bedeutend älteren kranken Freund ihrer Familie nicht pflegen gehen, ihn nicht an seinem Krankenbette allein besuchen, wenn er zufällig nicht verheirathet war; und eine selbständige Meinung oder Theilnahme für das Allgemeine an den Tag zu legen, das war vollends nicht mädchenhaft und auch nicht weiblich. Wir sollten gar keine eigene Meinung haben, und es galt für ein Gebot der Weiblichkeit, jeden Satz ausdrücklich mit »ich glaube« oder mit »man sagt« anzufangen,

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Jetzt, da fast ein Menschenalter seit jenen Tagen vergangen ist, denke ich oft mit Lächeln und mit Bedauern daran zurück, wie mühsam wir dem Vorurtheile Schritt für Schritt den Boden haben abgewinnen müssen, auf dem jetzt alle Frauen unbefangen stehen, und wie wir für uns selber erst haben erringen müssen, was Alle jetzt in sorgloser Sicherheit genießen. Was war nicht Alles anstößig in früherer Zeit! Was war nicht ungeziemend für eine Frau, und vollends für ein Mädchen! Ein Mädchen durfte keine Statue ansehen, welche den Menschen nackt darstellte, und mußte vor einem Bilde mit nackten Figuren das Auge abwenden und, wenn es irgend möglich war, erschrecken und erröthen; ein Mädchen durfte allein nicht die kleinste Reise unternehmen und mußte selbst bei einer Fahrt von vier Stunden noch begleitet werden; ein Mädchen durfte schicklicher Weise nicht in ein fremdes Haus gehen, um bei einem Handwerker eine Bestellung auszurichten; selbst ein nicht mehr junges Mädchen durfte einen bedeutend älteren kranken Freund ihrer Familie nicht pflegen gehen, ihn nicht an seinem Krankenbette allein besuchen, wenn er zufällig nicht verheirathet war; und eine selbständige Meinung oder Theilnahme für das Allgemeine an den Tag zu legen, das war vollends nicht mädchenhaft und auch nicht weiblich. Wir sollten gar keine eigene Meinung haben, und es galt für ein Gebot der Weiblichkeit, jeden Satz ausdrücklich mit »ich glaube« oder mit »man sagt« anzufangen,
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[97/0107] Jetzt, da fast ein Menschenalter seit jenen Tagen vergangen ist, denke ich oft mit Lächeln und mit Bedauern daran zurück, wie mühsam wir dem Vorurtheile Schritt für Schritt den Boden haben abgewinnen müssen, auf dem jetzt alle Frauen unbefangen stehen, und wie wir für uns selber erst haben erringen müssen, was Alle jetzt in sorgloser Sicherheit genießen. Was war nicht Alles anstößig in früherer Zeit! Was war nicht ungeziemend für eine Frau, und vollends für ein Mädchen! Ein Mädchen durfte keine Statue ansehen, welche den Menschen nackt darstellte, und mußte vor einem Bilde mit nackten Figuren das Auge abwenden und, wenn es irgend möglich war, erschrecken und erröthen; ein Mädchen durfte allein nicht die kleinste Reise unternehmen und mußte selbst bei einer Fahrt von vier Stunden noch begleitet werden; ein Mädchen durfte schicklicher Weise nicht in ein fremdes Haus gehen, um bei einem Handwerker eine Bestellung auszurichten; selbst ein nicht mehr junges Mädchen durfte einen bedeutend älteren kranken Freund ihrer Familie nicht pflegen gehen, ihn nicht an seinem Krankenbette allein besuchen, wenn er zufällig nicht verheirathet war; und eine selbständige Meinung oder Theilnahme für das Allgemeine an den Tag zu legen, das war vollends nicht mädchenhaft und auch nicht weiblich. Wir sollten gar keine eigene Meinung haben, und es galt für ein Gebot der Weiblichkeit, jeden Satz ausdrücklich mit »ich glaube« oder mit »man sagt« anzufangen,

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Zitationshilfe: Lewald, Fanny: Für und wider die Frauen. Berlin, 1870, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_frauen_1870/107>, abgerufen am 24.11.2024.