Abschiedskuß. Wer weiß, ob die Tochter, die ich Dir bringe, mich nicht aus Deinem Herzen verdrängt!" Bei den Worten küßte er die Mut- ter und eilte hinaus, ehe sie ihm Etwas ent- gegnen konnte.
Besorgt sah die Pfarrerin dem Sohne nach, dann faltete sie wie betend die Hände, und schien, sein Schicksal dem Himmel anvertrauend, Ruhe im Gebet zu finden.
Je schneller Reinhard dem Meierschen Hause zugeeilt war, je auffallender mußte ihn der Ge- gensatz überraschen, der sich ihm zwischen der stillen Wohnung seiner Mutter und dem Trei- ben in den Sälen bei Madame Meier heute bot. Er hatte, wie es Jedem wol begegnet, sich lebhaft vorgestellt, wie er Jenny, mit weiblicher Arbeit beschäftigt, allein finden, wie sie ihn willkommen heißen, ihn um sein Ausbleiben fragen, und er ihr dann endlich sagen werde, wie er sie liebe. Bis in die kleinsten Züge hin-
Abſchiedskuß. Wer weiß, ob die Tochter, die ich Dir bringe, mich nicht aus Deinem Herzen verdrängt!“ Bei den Worten küßte er die Mut- ter und eilte hinaus, ehe ſie ihm Etwas ent- gegnen konnte.
Beſorgt ſah die Pfarrerin dem Sohne nach, dann faltete ſie wie betend die Hände, und ſchien, ſein Schickſal dem Himmel anvertrauend, Ruhe im Gebet zu finden.
Je ſchneller Reinhard dem Meierſchen Hauſe zugeeilt war, je auffallender mußte ihn der Ge- genſatz überraſchen, der ſich ihm zwiſchen der ſtillen Wohnung ſeiner Mutter und dem Trei- ben in den Sälen bei Madame Meier heute bot. Er hatte, wie es Jedem wol begegnet, ſich lebhaft vorgeſtellt, wie er Jenny, mit weiblicher Arbeit beſchäftigt, allein finden, wie ſie ihn willkommen heißen, ihn um ſein Ausbleiben fragen, und er ihr dann endlich ſagen werde, wie er ſie liebe. Bis in die kleinſten Züge hin-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0227"n="215"/>
Abſchiedskuß. Wer weiß, ob die Tochter, die<lb/>
ich Dir bringe, mich nicht aus Deinem Herzen<lb/>
verdrängt!“ Bei den Worten küßte er die Mut-<lb/>
ter und eilte hinaus, ehe ſie ihm Etwas ent-<lb/>
gegnen konnte.</p><lb/><p>Beſorgt ſah die Pfarrerin dem Sohne nach,<lb/>
dann faltete ſie wie betend die Hände, und<lb/>ſchien, ſein Schickſal dem Himmel anvertrauend,<lb/>
Ruhe im Gebet zu finden.</p><lb/><p>Je ſchneller Reinhard dem Meierſchen Hauſe<lb/>
zugeeilt war, je auffallender mußte ihn der Ge-<lb/>
genſatz überraſchen, der ſich ihm zwiſchen der<lb/>ſtillen Wohnung ſeiner Mutter und dem Trei-<lb/>
ben in den Sälen bei Madame Meier heute<lb/>
bot. Er hatte, wie es Jedem wol begegnet, ſich<lb/>
lebhaft vorgeſtellt, wie er Jenny, mit weiblicher<lb/>
Arbeit beſchäftigt, allein finden, wie ſie ihn<lb/>
willkommen heißen, ihn um ſein Ausbleiben<lb/>
fragen, und er ihr dann endlich ſagen werde,<lb/>
wie er ſie liebe. Bis in die kleinſten Züge hin-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[215/0227]
Abſchiedskuß. Wer weiß, ob die Tochter, die
ich Dir bringe, mich nicht aus Deinem Herzen
verdrängt!“ Bei den Worten küßte er die Mut-
ter und eilte hinaus, ehe ſie ihm Etwas ent-
gegnen konnte.
Beſorgt ſah die Pfarrerin dem Sohne nach,
dann faltete ſie wie betend die Hände, und
ſchien, ſein Schickſal dem Himmel anvertrauend,
Ruhe im Gebet zu finden.
Je ſchneller Reinhard dem Meierſchen Hauſe
zugeeilt war, je auffallender mußte ihn der Ge-
genſatz überraſchen, der ſich ihm zwiſchen der
ſtillen Wohnung ſeiner Mutter und dem Trei-
ben in den Sälen bei Madame Meier heute
bot. Er hatte, wie es Jedem wol begegnet, ſich
lebhaft vorgeſtellt, wie er Jenny, mit weiblicher
Arbeit beſchäftigt, allein finden, wie ſie ihn
willkommen heißen, ihn um ſein Ausbleiben
fragen, und er ihr dann endlich ſagen werde,
wie er ſie liebe. Bis in die kleinſten Züge hin-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/227>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.