mit ängstlicher Sorgfalt das geringe Glück, auf das sie Anspruch hatte, sich und dem Ge- liebten zu erhalten strebte. Doch nur schwer und allmälig gelangte er zu der Fassung, welche Clara gleich in sich gefunden, um ihn damit zu beruhigen. Auch ihm drängte sich dadurch unwillkürlich die Frage auf, ob in der Frauen Natur wirklich eine höhere Leidensfä- higkeit liege, als in der des Mannes. Er be- wunderte Clara, aber er konnte diese Resigna- tion kaum begreifen. Ja, einen Augenblick lang wagte er zu glauben, Clara's Gefühl könne an Stärke dem seinigen nicht gleich sein; sie müsse ihn weniger lieben, als er sie. Das ist eine Ungerechtigkeit, deren man sich nur zu oft schuldig macht. Weil das Weib besser liebt, weil es nur an den Schmerz des Geliebten, nicht an sich selbst denkt und sich in dem Glück des Andern vollkommen verges- sen kann, schilt man es kalt und tröstet sich
mit ängſtlicher Sorgfalt das geringe Glück, auf das ſie Anſpruch hatte, ſich und dem Ge- liebten zu erhalten ſtrebte. Doch nur ſchwer und allmälig gelangte er zu der Faſſung, welche Clara gleich in ſich gefunden, um ihn damit zu beruhigen. Auch ihm drängte ſich dadurch unwillkürlich die Frage auf, ob in der Frauen Natur wirklich eine höhere Leidensfä- higkeit liege, als in der des Mannes. Er be- wunderte Clara, aber er konnte dieſe Reſigna- tion kaum begreifen. Ja, einen Augenblick lang wagte er zu glauben, Clara's Gefühl könne an Stärke dem ſeinigen nicht gleich ſein; ſie müſſe ihn weniger lieben, als er ſie. Das iſt eine Ungerechtigkeit, deren man ſich nur zu oft ſchuldig macht. Weil das Weib beſſer liebt, weil es nur an den Schmerz des Geliebten, nicht an ſich ſelbſt denkt und ſich in dem Glück des Andern vollkommen vergeſ- ſen kann, ſchilt man es kalt und tröſtet ſich
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mit ängſtlicher Sorgfalt das geringe Glück,
auf das ſie Anſpruch hatte, ſich und dem Ge-
liebten zu erhalten ſtrebte. Doch nur ſchwer
und allmälig gelangte er zu der Faſſung,
welche Clara gleich in ſich gefunden, um ihn
damit zu beruhigen. Auch ihm drängte ſich
dadurch unwillkürlich die Frage auf, ob in der
Frauen Natur wirklich eine höhere Leidensfä-
higkeit liege, als in der des Mannes. Er be-
wunderte Clara, aber er konnte dieſe Reſigna-
tion kaum begreifen. Ja, einen Augenblick
lang wagte er zu glauben, Clara's Gefühl
könne an Stärke dem ſeinigen nicht gleich
ſein; ſie müſſe ihn weniger lieben, als er ſie.
Das iſt eine Ungerechtigkeit, deren man ſich
nur zu oft ſchuldig macht. Weil das Weib
beſſer liebt, weil es nur an den Schmerz des
Geliebten, nicht an ſich ſelbſt denkt und ſich
in dem Glück des Andern vollkommen vergeſ-
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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/385>, abgerufen am 24.11.2024.
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