Höhe, für die sie nicht geschaffen ist! Aber schlimm genug, daß es so ist, und kein Dichter dürfte dies Bild brauchen, wenn er das Ideal schildern will, das von dieser innigsten Verei- nigung in uns lebt. Das Gleichniß ist falsch!" schloß er und sah verwundert auf Jenny, die während er gesprochen, den Stift aufgenommen hatte und mit dem größten Eifer zeichnete. Nach einigen Minuten reichte sie dem Grafen, der über ihre scheinbare Zerstreutheit ein wenig verletzt und schweigend neben ihr saß, ihre Zeichnung hin und fragte: "Und so Graf Walter? befriedigt dies Gleichniß Sie mehr?"
Sie hatte mit kunstgeübter Hand eine vor- treffliche Skizze entworfen. Zwei kräftige, üp- pige Bäume standen dicht nebeneinander, frisch und fröhlich emporstrebend, mit eng verschlun- genen Aesten. Darunter las man die Worte: "Aus gleicher Tiefe, frei und vereint zum Aether empor!"
Höhe, für die ſie nicht geſchaffen iſt! Aber ſchlimm genug, daß es ſo iſt, und kein Dichter dürfte dies Bild brauchen, wenn er das Ideal ſchildern will, das von dieſer innigſten Verei- nigung in uns lebt. Das Gleichniß iſt falſch!“ ſchloß er und ſah verwundert auf Jenny, die während er geſprochen, den Stift aufgenommen hatte und mit dem größten Eifer zeichnete. Nach einigen Minuten reichte ſie dem Grafen, der über ihre ſcheinbare Zerſtreutheit ein wenig verletzt und ſchweigend neben ihr ſaß, ihre Zeichnung hin und fragte: „Und ſo Graf Walter? befriedigt dies Gleichniß Sie mehr?“
Sie hatte mit kunſtgeübter Hand eine vor- treffliche Skizze entworfen. Zwei kräftige, üp- pige Bäume ſtanden dicht nebeneinander, friſch und fröhlich emporſtrebend, mit eng verſchlun- genen Aeſten. Darunter las man die Worte: „Aus gleicher Tiefe, frei und vereint zum Aether empor!“
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Höhe, für die ſie nicht geſchaffen iſt! Aber
ſchlimm genug, daß es ſo iſt, und kein Dichter
dürfte dies Bild brauchen, wenn er das Ideal
ſchildern will, das von dieſer innigſten Verei-
nigung in uns lebt. Das Gleichniß iſt falſch!“
ſchloß er und ſah verwundert auf Jenny, die
während er geſprochen, den Stift aufgenommen
hatte und mit dem größten Eifer zeichnete.
Nach einigen Minuten reichte ſie dem Grafen,
der über ihre ſcheinbare Zerſtreutheit ein wenig
verletzt und ſchweigend neben ihr ſaß, ihre
Zeichnung hin und fragte: „Und ſo Graf
Walter? befriedigt dies Gleichniß Sie mehr?“
Sie hatte mit kunſtgeübter Hand eine vor-
treffliche Skizze entworfen. Zwei kräftige, üp-
pige Bäume ſtanden dicht nebeneinander, friſch
und fröhlich emporſtrebend, mit eng verſchlun-
genen Aeſten. Darunter las man die Worte:
„Aus gleicher Tiefe, frei und vereint zum
Aether empor!“
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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 2. Leipzig, 1843, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny02_1843/182>, abgerufen am 21.11.2024.
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