lehnte und dringend Ruhe zu bedürfen schien. Die Spannung der letzten Zeit hatte, nun die That vollbracht war, nachgelassen und wie na- türlich einer großen Erschöpfung Platz gemacht. Als Reinhard das zarte Mädchen so in seinen Armen hielt, das mit den geschlossenen Augen, den ruhigen, regungslosen Zügen und der weißen Kleidung wirklich einer schönen Leiche glich, fuhr ihm schmerzlich der Gedanke durch die Seele, sie könne sterben, während er sich von ihr trenne, und er werde sie niemals wieder- sehe. Er schrak zusammen. Wäre es eine Ah- nung? fragte er sich, und eine fast kindische Furcht ließ ihn die Möglichkeit wähnen, die Geliebte könne gerade jetzt in seinen Armen ge- storben sein. Behutsam küßte er plötzlich Jen- ny's lange Wimpern, indem er sie mit den zärtlichsten Worten bat, nur einen Laut zu sprechen, ihm nur zu sagen, daß sie lebe, daß sie sein Glück mit ihm fühle.
lehnte und dringend Ruhe zu bedürfen ſchien. Die Spannung der letzten Zeit hatte, nun die That vollbracht war, nachgelaſſen und wie na- türlich einer großen Erſchöpfung Platz gemacht. Als Reinhard das zarte Mädchen ſo in ſeinen Armen hielt, das mit den geſchloſſenen Augen, den ruhigen, regungsloſen Zügen und der weißen Kleidung wirklich einer ſchönen Leiche glich, fuhr ihm ſchmerzlich der Gedanke durch die Seele, ſie könne ſterben, während er ſich von ihr trenne, und er werde ſie niemals wieder- ſehe. Er ſchrak zuſammen. Wäre es eine Ah- nung? fragte er ſich, und eine faſt kindiſche Furcht ließ ihn die Möglichkeit wähnen, die Geliebte könne gerade jetzt in ſeinen Armen ge- ſtorben ſein. Behutſam küßte er plötzlich Jen- ny's lange Wimpern, indem er ſie mit den zärtlichſten Worten bat, nur einen Laut zu ſprechen, ihm nur zu ſagen, daß ſie lebe, daß ſie ſein Glück mit ihm fühle.
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lehnte und dringend Ruhe zu bedürfen ſchien.
Die Spannung der letzten Zeit hatte, nun die
That vollbracht war, nachgelaſſen und wie na-
türlich einer großen Erſchöpfung Platz gemacht.
Als Reinhard das zarte Mädchen ſo in ſeinen
Armen hielt, das mit den geſchloſſenen Augen,
den ruhigen, regungsloſen Zügen und der weißen
Kleidung wirklich einer ſchönen Leiche glich,
fuhr ihm ſchmerzlich der Gedanke durch die
Seele, ſie könne ſterben, während er ſich von
ihr trenne, und er werde ſie niemals wieder-
ſehe. Er ſchrak zuſammen. Wäre es eine Ah-
nung? fragte er ſich, und eine faſt kindiſche
Furcht ließ ihn die Möglichkeit wähnen, die
Geliebte könne gerade jetzt in ſeinen Armen ge-
ſtorben ſein. Behutſam küßte er plötzlich Jen-
ny's lange Wimpern, indem er ſie mit den
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ſprechen, ihm nur zu ſagen, daß ſie lebe,
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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 2. Leipzig, 1843, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny02_1843/60>, abgerufen am 21.11.2024.
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