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Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Während aber diese ernstere Richtung, diese Umgestaltung im Familienleben sich still entwickelte, ging die äußere Geselligkeit der Hauptstadt ihren rauschenden Gang. Die ganze europäische Gesellschaft war durch die Kriege aufgeregt und durch einander geworfen worden. Fast jeder hatte hinter einander unerwartete Glückszufälle und harte Schicksalsschläge erleiden müssen, Tausende hatten schnell Freundschafts- und Herzensverhältnisse geknüpft, und Entfernung, Leichtsinn oder der Tod hatten diese dauerhaft geglaubten Bündnisse zerstört. Ein Hang zu schnellem Leben in dem raschen Daseinswechsel, und daneben wieder eine Sehnsucht nach Bleibendem und Ewigem hatte sich der Menschen bemächtigt, so daß schrankenlose Genußsucht und ein Ringen nach innerer Selbstvollendung, daß höchster, verschwenderischer Luxus und Rückkehr zu strenger Einfachheit, daß sinnliche Frivolität und tiefe Frömmigkeit, daß Begeisterung für die französische Weltherrschaft und feuriger Patriotismus sich überall dicht neben einander begegneten.

Ich glaube, keine Zeit in diesem Jahrhundert hat so viel leidenschaftliche Verhältnisse, so aufgeregte Männer und Frauen gesehen, als eben jene Tage. Bei der Ungewißheit aller Zustände gewannen alle Empfindungen einen leidenschaftlichen Anstrich. Romantische Liebesgeschichten, Ehescheidungen, Entführungen waren an der Tagesordnung, und wie denn die geistige Atmosphäre der Zeit auf jeden Menschen einwirkt,

Während aber diese ernstere Richtung, diese Umgestaltung im Familienleben sich still entwickelte, ging die äußere Geselligkeit der Hauptstadt ihren rauschenden Gang. Die ganze europäische Gesellschaft war durch die Kriege aufgeregt und durch einander geworfen worden. Fast jeder hatte hinter einander unerwartete Glückszufälle und harte Schicksalsschläge erleiden müssen, Tausende hatten schnell Freundschafts- und Herzensverhältnisse geknüpft, und Entfernung, Leichtsinn oder der Tod hatten diese dauerhaft geglaubten Bündnisse zerstört. Ein Hang zu schnellem Leben in dem raschen Daseinswechsel, und daneben wieder eine Sehnsucht nach Bleibendem und Ewigem hatte sich der Menschen bemächtigt, so daß schrankenlose Genußsucht und ein Ringen nach innerer Selbstvollendung, daß höchster, verschwenderischer Luxus und Rückkehr zu strenger Einfachheit, daß sinnliche Frivolität und tiefe Frömmigkeit, daß Begeisterung für die französische Weltherrschaft und feuriger Patriotismus sich überall dicht neben einander begegneten.

Ich glaube, keine Zeit in diesem Jahrhundert hat so viel leidenschaftliche Verhältnisse, so aufgeregte Männer und Frauen gesehen, als eben jene Tage. Bei der Ungewißheit aller Zustände gewannen alle Empfindungen einen leidenschaftlichen Anstrich. Romantische Liebesgeschichten, Ehescheidungen, Entführungen waren an der Tagesordnung, und wie denn die geistige Atmosphäre der Zeit auf jeden Menschen einwirkt,

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[0054] Während aber diese ernstere Richtung, diese Umgestaltung im Familienleben sich still entwickelte, ging die äußere Geselligkeit der Hauptstadt ihren rauschenden Gang. Die ganze europäische Gesellschaft war durch die Kriege aufgeregt und durch einander geworfen worden. Fast jeder hatte hinter einander unerwartete Glückszufälle und harte Schicksalsschläge erleiden müssen, Tausende hatten schnell Freundschafts- und Herzensverhältnisse geknüpft, und Entfernung, Leichtsinn oder der Tod hatten diese dauerhaft geglaubten Bündnisse zerstört. Ein Hang zu schnellem Leben in dem raschen Daseinswechsel, und daneben wieder eine Sehnsucht nach Bleibendem und Ewigem hatte sich der Menschen bemächtigt, so daß schrankenlose Genußsucht und ein Ringen nach innerer Selbstvollendung, daß höchster, verschwenderischer Luxus und Rückkehr zu strenger Einfachheit, daß sinnliche Frivolität und tiefe Frömmigkeit, daß Begeisterung für die französische Weltherrschaft und feuriger Patriotismus sich überall dicht neben einander begegneten. Ich glaube, keine Zeit in diesem Jahrhundert hat so viel leidenschaftliche Verhältnisse, so aufgeregte Männer und Frauen gesehen, als eben jene Tage. Bei der Ungewißheit aller Zustände gewannen alle Empfindungen einen leidenschaftlichen Anstrich. Romantische Liebesgeschichten, Ehescheidungen, Entführungen waren an der Tagesordnung, und wie denn die geistige Atmosphäre der Zeit auf jeden Menschen einwirkt,

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:16:08Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:16:08Z)

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Zitationshilfe: Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/54>, abgerufen am 11.05.2024.