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Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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In dem ungeheuren Elende, in der riesigen Vernichtung, die man vor sich sah, verstummte der Schmerz des Einzelnen fast schamhaft. Wo so viel Tausende in gräßlichen Qualen untergegangen waren, wagte man kaum über den Tod des Einzelnen zu klagen, und vollends in Berlin waren die Zustände und Verhältnisse so wunderbar geartet und verwirrt, daß alle Gedanken in die Zukunft gerichtet waren, die endliche Entscheidung und Lösung der Verwirrung zu errathen.

Wir waren noch im Bündnisse mit Frankreich, es ging sogar die Rede, der Kronprinz werde sich mit einer französischen Prinzessin vermählen, und doch knirschten Hunderttausende seit Jahren unter dem französischen Joche, doch sehnten Millionen das Ende der Fremdherrschaft herbei. Berlin war voll von Franzosen, am Hofe fanden sie die glänzendste Aufnahme, in der Stadt mußte ihnen eine zuvorkommende Gastlichkeit bewiesen werden, und doch wußte man, daß York die Fahnen des Kaisers verlassen hatte, doch konnte man den Jubel kaum unterdrücken, als die alten, treuen Ostprovinzen gegen die Franzosen sich erhoben. Es war wie im Frühjahr, wenn der Schnee noch die Erde deckt und Jeder des ersten Sonnenstrahles harrt, weil er weiß, daß Alles zum Aufgehen und Hervorbrechen reif geworden ist unter der verbergenden Hülle der kalten, stillen Schneedecke.

Die Eltern und der Onkel waren von jeher mit ihrem ganzen Herzen bei der Sache des Vaterlandes

In dem ungeheuren Elende, in der riesigen Vernichtung, die man vor sich sah, verstummte der Schmerz des Einzelnen fast schamhaft. Wo so viel Tausende in gräßlichen Qualen untergegangen waren, wagte man kaum über den Tod des Einzelnen zu klagen, und vollends in Berlin waren die Zustände und Verhältnisse so wunderbar geartet und verwirrt, daß alle Gedanken in die Zukunft gerichtet waren, die endliche Entscheidung und Lösung der Verwirrung zu errathen.

Wir waren noch im Bündnisse mit Frankreich, es ging sogar die Rede, der Kronprinz werde sich mit einer französischen Prinzessin vermählen, und doch knirschten Hunderttausende seit Jahren unter dem französischen Joche, doch sehnten Millionen das Ende der Fremdherrschaft herbei. Berlin war voll von Franzosen, am Hofe fanden sie die glänzendste Aufnahme, in der Stadt mußte ihnen eine zuvorkommende Gastlichkeit bewiesen werden, und doch wußte man, daß York die Fahnen des Kaisers verlassen hatte, doch konnte man den Jubel kaum unterdrücken, als die alten, treuen Ostprovinzen gegen die Franzosen sich erhoben. Es war wie im Frühjahr, wenn der Schnee noch die Erde deckt und Jeder des ersten Sonnenstrahles harrt, weil er weiß, daß Alles zum Aufgehen und Hervorbrechen reif geworden ist unter der verbergenden Hülle der kalten, stillen Schneedecke.

Die Eltern und der Onkel waren von jeher mit ihrem ganzen Herzen bei der Sache des Vaterlandes

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[0059] In dem ungeheuren Elende, in der riesigen Vernichtung, die man vor sich sah, verstummte der Schmerz des Einzelnen fast schamhaft. Wo so viel Tausende in gräßlichen Qualen untergegangen waren, wagte man kaum über den Tod des Einzelnen zu klagen, und vollends in Berlin waren die Zustände und Verhältnisse so wunderbar geartet und verwirrt, daß alle Gedanken in die Zukunft gerichtet waren, die endliche Entscheidung und Lösung der Verwirrung zu errathen. Wir waren noch im Bündnisse mit Frankreich, es ging sogar die Rede, der Kronprinz werde sich mit einer französischen Prinzessin vermählen, und doch knirschten Hunderttausende seit Jahren unter dem französischen Joche, doch sehnten Millionen das Ende der Fremdherrschaft herbei. Berlin war voll von Franzosen, am Hofe fanden sie die glänzendste Aufnahme, in der Stadt mußte ihnen eine zuvorkommende Gastlichkeit bewiesen werden, und doch wußte man, daß York die Fahnen des Kaisers verlassen hatte, doch konnte man den Jubel kaum unterdrücken, als die alten, treuen Ostprovinzen gegen die Franzosen sich erhoben. Es war wie im Frühjahr, wenn der Schnee noch die Erde deckt und Jeder des ersten Sonnenstrahles harrt, weil er weiß, daß Alles zum Aufgehen und Hervorbrechen reif geworden ist unter der verbergenden Hülle der kalten, stillen Schneedecke. Die Eltern und der Onkel waren von jeher mit ihrem ganzen Herzen bei der Sache des Vaterlandes

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:16:08Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:16:08Z)

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Zitationshilfe: Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/59>, abgerufen am 11.05.2024.