Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.daß die Tante ganz reizend gewesen sei mit siebzehn Jahren, und bezaubernd, als sie zwanzig alt war. War sie doch immer noch hübsch! Hatte sie doch jetzt noch die hellsten blauen Augen, fiel ihr blondes Haar mit seiner feinen Silbermischung doch noch immer in zierlichen Locken um die Stirne, lachte sie doch noch immer mit der reinsten Anmuth, und was ihre Hand und ihren Fuß betraf, so waren sie noch von einer tadellosen Feinheit. Die Tante war Wittwe seit ihrem dreißigsten Jahre, und kinderlos. Dafür aber war sie der Schirm und Schutz, der Rath und die Vertraute der ganzen Jugend in der Familie. Zu ihr gingen die Kinder am liebsten mit ihren Puppen und die großen Mädchen mit der Weihnachtsarbeit. Hatte eine Nichte einen Liebeskummer, so wurde er der Tante anvertraut, die wir scherzend nur Frau Minnetrost benannten. Machte einmal ein Neffe einen dummen Streich, so entdeckte er sich gewiß zuerst der Tante, um sie zur Vermittlerin bei den Eltern zu gebrauchen, und da sie reich und unabhängig war, gab sie nicht nur guten Rath, sondern kam auch ungebeten oft mit schneller That zu Hülfe. Die Tante hatte überhaupt ein offenes Herz für Jedermann und eine offene Hand für Viele. Es haben sich gar Manche den Ruf der größten Wohlthätigkeit erworben, die weit weniger für Andere hingegeben als die Tante; aber freilich, die persönliche Armenpflege war ihre Sache nicht. Ihr alter Diener daß die Tante ganz reizend gewesen sei mit siebzehn Jahren, und bezaubernd, als sie zwanzig alt war. War sie doch immer noch hübsch! Hatte sie doch jetzt noch die hellsten blauen Augen, fiel ihr blondes Haar mit seiner feinen Silbermischung doch noch immer in zierlichen Locken um die Stirne, lachte sie doch noch immer mit der reinsten Anmuth, und was ihre Hand und ihren Fuß betraf, so waren sie noch von einer tadellosen Feinheit. Die Tante war Wittwe seit ihrem dreißigsten Jahre, und kinderlos. Dafür aber war sie der Schirm und Schutz, der Rath und die Vertraute der ganzen Jugend in der Familie. Zu ihr gingen die Kinder am liebsten mit ihren Puppen und die großen Mädchen mit der Weihnachtsarbeit. Hatte eine Nichte einen Liebeskummer, so wurde er der Tante anvertraut, die wir scherzend nur Frau Minnetrost benannten. Machte einmal ein Neffe einen dummen Streich, so entdeckte er sich gewiß zuerst der Tante, um sie zur Vermittlerin bei den Eltern zu gebrauchen, und da sie reich und unabhängig war, gab sie nicht nur guten Rath, sondern kam auch ungebeten oft mit schneller That zu Hülfe. Die Tante hatte überhaupt ein offenes Herz für Jedermann und eine offene Hand für Viele. Es haben sich gar Manche den Ruf der größten Wohlthätigkeit erworben, die weit weniger für Andere hingegeben als die Tante; aber freilich, die persönliche Armenpflege war ihre Sache nicht. Ihr alter Diener <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0008"/> daß die Tante ganz reizend gewesen sei mit siebzehn Jahren, und bezaubernd, als sie zwanzig alt war. War sie doch immer noch hübsch! Hatte sie doch jetzt noch die hellsten blauen Augen, fiel ihr blondes Haar mit seiner feinen Silbermischung doch noch immer in zierlichen Locken um die Stirne, lachte sie doch noch immer mit der reinsten Anmuth, und was ihre Hand und ihren Fuß betraf, so waren sie noch von einer tadellosen Feinheit.</p><lb/> <p>Die Tante war Wittwe seit ihrem dreißigsten Jahre, und kinderlos. Dafür aber war sie der Schirm und Schutz, der Rath und die Vertraute der ganzen Jugend in der Familie. Zu ihr gingen die Kinder am liebsten mit ihren Puppen und die großen Mädchen mit der Weihnachtsarbeit. Hatte eine Nichte einen Liebeskummer, so wurde er der Tante anvertraut, die wir scherzend nur Frau Minnetrost benannten. Machte einmal ein Neffe einen dummen Streich, so entdeckte er sich gewiß zuerst der Tante, um sie zur Vermittlerin bei den Eltern zu gebrauchen, und da sie reich und unabhängig war, gab sie nicht nur guten Rath, sondern kam auch ungebeten oft mit schneller That zu Hülfe.</p><lb/> <p>Die Tante hatte überhaupt ein offenes Herz für Jedermann und eine offene Hand für Viele. Es haben sich gar Manche den Ruf der größten Wohlthätigkeit erworben, die weit weniger für Andere hingegeben als die Tante; aber freilich, die persönliche Armenpflege war ihre Sache nicht. Ihr alter Diener<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0008]
daß die Tante ganz reizend gewesen sei mit siebzehn Jahren, und bezaubernd, als sie zwanzig alt war. War sie doch immer noch hübsch! Hatte sie doch jetzt noch die hellsten blauen Augen, fiel ihr blondes Haar mit seiner feinen Silbermischung doch noch immer in zierlichen Locken um die Stirne, lachte sie doch noch immer mit der reinsten Anmuth, und was ihre Hand und ihren Fuß betraf, so waren sie noch von einer tadellosen Feinheit.
Die Tante war Wittwe seit ihrem dreißigsten Jahre, und kinderlos. Dafür aber war sie der Schirm und Schutz, der Rath und die Vertraute der ganzen Jugend in der Familie. Zu ihr gingen die Kinder am liebsten mit ihren Puppen und die großen Mädchen mit der Weihnachtsarbeit. Hatte eine Nichte einen Liebeskummer, so wurde er der Tante anvertraut, die wir scherzend nur Frau Minnetrost benannten. Machte einmal ein Neffe einen dummen Streich, so entdeckte er sich gewiß zuerst der Tante, um sie zur Vermittlerin bei den Eltern zu gebrauchen, und da sie reich und unabhängig war, gab sie nicht nur guten Rath, sondern kam auch ungebeten oft mit schneller That zu Hülfe.
Die Tante hatte überhaupt ein offenes Herz für Jedermann und eine offene Hand für Viele. Es haben sich gar Manche den Ruf der größten Wohlthätigkeit erworben, die weit weniger für Andere hingegeben als die Tante; aber freilich, die persönliche Armenpflege war ihre Sache nicht. Ihr alter Diener
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Zitationshilfe: | Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/8>, abgerufen am 16.02.2025. |