Alle in den anderen Fächern bereits vorhandenen Erfah- rungen und Beobachtungen wirkten in ganz gleicher Weise fördernd, auf die Ausbildung und Entwicklung der Chemie zurück, so daß sie eben so viel von der Metallurgie und In- dustrie empfing, als sie gegeben hatte; indem sie zusam- men an Reichthum zunahmen, bildeten sie sich mit und ne- ben einander aus.
Nach der allmäligen Vervollkommnung der Mineralchemie wandten sich die Arbeiten der Chemiker einer andern Rich- tung zu; aus der Untersuchung der Bestandtheile der Pflan- zen und Thiere sind neue und veränderte Ansichten hervor- gegangen; das vorliegende Werk ist ein Versuch zu ihrer Anwendung in der Physiologie und Pathologie.
In früheren Zeiten hat man, in vielen Fällen mit gro- ßem Erfolg, die aus der Bekanntschaft mit den chemischen Erfahrungen erworbenen Ansichten auf die Zwecke der Heil- wissenschaft anzuwenden versucht; ja, die großen Aerzte, welche zu Ende des siebenzehnten Jahrhunderts lebten, wa- ren die ausschließlichen Kenner und Begründer der Chemie; das phlogistische System der Chemie, mit allen seinen Unvollkom- menheiten, erschien als die Morgenröthe eines neuen Tages, es war der Sieg der Philosophie über die roheste Experi- mentirkunst.
Die neuere Chemie hat mit allen ihren Entdeckungen der Physiologie und Pathologie nur unbedeutende Dienste gelei- stet, und Niemand kann sich über die Ursache dieser Theil- nahmlosigkeit täuschen, wer in Erwägung zieht, daß alle in
Vorwort.
Alle in den anderen Fächern bereits vorhandenen Erfah- rungen und Beobachtungen wirkten in ganz gleicher Weiſe fördernd, auf die Ausbildung und Entwicklung der Chemie zurück, ſo daß ſie eben ſo viel von der Metallurgie und In- duſtrie empfing, als ſie gegeben hatte; indem ſie zuſam- men an Reichthum zunahmen, bildeten ſie ſich mit und ne- ben einander aus.
Nach der allmäligen Vervollkommnung der Mineralchemie wandten ſich die Arbeiten der Chemiker einer andern Rich- tung zu; aus der Unterſuchung der Beſtandtheile der Pflan- zen und Thiere ſind neue und veränderte Anſichten hervor- gegangen; das vorliegende Werk iſt ein Verſuch zu ihrer Anwendung in der Phyſiologie und Pathologie.
In früheren Zeiten hat man, in vielen Fällen mit gro- ßem Erfolg, die aus der Bekanntſchaft mit den chemiſchen Erfahrungen erworbenen Anſichten auf die Zwecke der Heil- wiſſenſchaft anzuwenden verſucht; ja, die großen Aerzte, welche zu Ende des ſiebenzehnten Jahrhunderts lebten, wa- ren die ausſchließlichen Kenner und Begründer der Chemie; das phlogiſtiſche Syſtem der Chemie, mit allen ſeinen Unvollkom- menheiten, erſchien als die Morgenröthe eines neuen Tages, es war der Sieg der Philoſophie über die roheſte Experi- mentirkunſt.
Die neuere Chemie hat mit allen ihren Entdeckungen der Phyſiologie und Pathologie nur unbedeutende Dienſte gelei- ſtet, und Niemand kann ſich über die Urſache dieſer Theil- nahmloſigkeit täuſchen, wer in Erwägung zieht, daß alle in
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[VIII/0014]
Vorwort.
Alle in den anderen Fächern bereits vorhandenen Erfah-
rungen und Beobachtungen wirkten in ganz gleicher Weiſe
fördernd, auf die Ausbildung und Entwicklung der Chemie
zurück, ſo daß ſie eben ſo viel von der Metallurgie und In-
duſtrie empfing, als ſie gegeben hatte; indem ſie zuſam-
men an Reichthum zunahmen, bildeten ſie ſich mit und ne-
ben einander aus.
Nach der allmäligen Vervollkommnung der Mineralchemie
wandten ſich die Arbeiten der Chemiker einer andern Rich-
tung zu; aus der Unterſuchung der Beſtandtheile der Pflan-
zen und Thiere ſind neue und veränderte Anſichten hervor-
gegangen; das vorliegende Werk iſt ein Verſuch zu ihrer
Anwendung in der Phyſiologie und Pathologie.
In früheren Zeiten hat man, in vielen Fällen mit gro-
ßem Erfolg, die aus der Bekanntſchaft mit den chemiſchen
Erfahrungen erworbenen Anſichten auf die Zwecke der Heil-
wiſſenſchaft anzuwenden verſucht; ja, die großen Aerzte,
welche zu Ende des ſiebenzehnten Jahrhunderts lebten, wa-
ren die ausſchließlichen Kenner und Begründer der Chemie; das
phlogiſtiſche Syſtem der Chemie, mit allen ſeinen Unvollkom-
menheiten, erſchien als die Morgenröthe eines neuen Tages,
es war der Sieg der Philoſophie über die roheſte Experi-
mentirkunſt.
Die neuere Chemie hat mit allen ihren Entdeckungen der
Phyſiologie und Pathologie nur unbedeutende Dienſte gelei-
ſtet, und Niemand kann ſich über die Urſache dieſer Theil-
nahmloſigkeit täuſchen, wer in Erwägung zieht, daß alle in
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Liebig, Justus von: Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie. Braunschweig, 1842, S. VIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebig_physiologie_1842/14>, abgerufen am 23.11.2024.
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