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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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organisirte "Volksbewegung" zum Zweck der Annexion von Elsaß-Loth-
ringen. Der Generalrath der Jnternationalen Arbeiterasso-
ziation
erließ damals ein Manifest, in welchem es u. A. heißt:

"Wie im Jahre 1865 Versprechungen ausgetauscht wurden zwischen
Louis Bonaparte und Bismarck, so im Jahre 1870 zwischen Bismarck
und Gortschakoff. Wie Louis Bonaparte sich schmeichelte, der Krieg
von 1866 werde ihn durch wechselseitige Schwächung Oesterreichs und
Preußens zum Schiedsrichter Deutschlands machen, so schmeichelte sich
Alexander, der Krieg von 1870 werde ihn durch gemeinsame Er-
schöpfung Deutschlands und Frankreichs zum Schiedsrichter des west-
lichen Continents machen. Wie das zweite Empire den deutschen Nord-
bund unverträglich mit seiner eigenen Existenz glaubte, so muß sich
das autokratische Rußland durch ein deutsches Reich unter preußischer
Leitung gefährdet halten. Dies ist das Gesetz des alten politischen
Systems. Jnnerhalb desselben ist der Gewinn eines Staats der Ver-
lust des andern. Der überwiegende Einfluß des Czaren auf Europa
wurzelt in seinem traditionellen Halt an Deutschland. Kann er in
einem Augenblick, wo in Rußland selbst vulkanische soziale Kräfte die
Grundlage der Autokratie unterwühlen, einen solchen Verlust seines
auswärtigen "Prestige" ertragen? Bereits wiederholen moskowitische
Blätter genau die Sprache der bonapartistischen Blätter nach dem
Krieg von 1866. Glauben die teutonischen Patrioten ernsthaft, die
Unabhängigkeit und den Frieden Deutschlands dadurch zu "garantiren",
daß sie Frankreich in Rußlands Arme werfen? Wenn
das Glück der deutschen Waffen, die Arroganz des Erfolgs und dynastische
Jntriguen zu einer Territorialberaubung Frankreichs verleiten, stehen
Deutschland nur noch zwei Wege offen. Es muß auf alle Gefahren
hin sich zum erklärten Werkzeug russischer Vergrößerung
machen oder nach kurzer Frist zu einem neuen Vertheidigungs-
krieg bereit sein,
nicht einem jener neumodischen "lokalisirten" Kriege,
sondern einem Racenkrieg, einem Krieg gegen die verbündeten
Slaven und Romanen
. Das ist die Friedensperspektive, welche die
hirnkranken Patrioten der Mittelklasse Deutschland "garantiren"!"

Jn demselben Sinne sprachen sich die sozialistischen Abgeordneten
im deutschen Reichstag aus, und schon am 3. Dezember 1871 machte
Liebknecht darauf aufmerksam, daß der russische Kaiser "den bruder-
mörderischen Krieg Deutschlands und Frankreichs zur Entzündung der
orientalischen Frage benutzte."

Die Sache war: Kaum hatte Rußland bemerkt, daß das Bis-
marck'sche Deutschland zur Annexion, oder deutsch: zur Eroberung von
Elsaß-Lothringen entschlossen war, so notifizirte es den europäischen

organiſirte „Volksbewegung‟ zum Zweck der Annexion von Elſaß-Loth-
ringen. Der Generalrath der Jnternationalen Arbeiteraſſo-
ziation
erließ damals ein Manifeſt, in welchem es u. A. heißt:

„Wie im Jahre 1865 Verſprechungen ausgetauſcht wurden zwiſchen
Louis Bonaparte und Bismarck, ſo im Jahre 1870 zwiſchen Bismarck
und Gortſchakoff. Wie Louis Bonaparte ſich ſchmeichelte, der Krieg
von 1866 werde ihn durch wechſelſeitige Schwächung Oeſterreichs und
Preußens zum Schiedsrichter Deutſchlands machen, ſo ſchmeichelte ſich
Alexander, der Krieg von 1870 werde ihn durch gemeinſame Er-
ſchöpfung Deutſchlands und Frankreichs zum Schiedsrichter des weſt-
lichen Continents machen. Wie das zweite Empire den deutſchen Nord-
bund unverträglich mit ſeiner eigenen Exiſtenz glaubte, ſo muß ſich
das autokratiſche Rußland durch ein deutſches Reich unter preußiſcher
Leitung gefährdet halten. Dies iſt das Geſetz des alten politiſchen
Syſtems. Jnnerhalb deſſelben iſt der Gewinn eines Staats der Ver-
luſt des andern. Der überwiegende Einfluß des Czaren auf Europa
wurzelt in ſeinem traditionellen Halt an Deutſchland. Kann er in
einem Augenblick, wo in Rußland ſelbſt vulkaniſche ſoziale Kräfte die
Grundlage der Autokratie unterwühlen, einen ſolchen Verluſt ſeines
auswärtigen „Preſtige‟ ertragen? Bereits wiederholen moskowitiſche
Blätter genau die Sprache der bonapartiſtiſchen Blätter nach dem
Krieg von 1866. Glauben die teutoniſchen Patrioten ernſthaft, die
Unabhängigkeit und den Frieden Deutſchlands dadurch zu „garantiren‟,
daß ſie Frankreich in Rußlands Arme werfen? Wenn
das Glück der deutſchen Waffen, die Arroganz des Erfolgs und dynaſtiſche
Jntriguen zu einer Territorialberaubung Frankreichs verleiten, ſtehen
Deutſchland nur noch zwei Wege offen. Es muß auf alle Gefahren
hin ſich zum erklärten Werkzeug ruſſiſcher Vergrößerung
machen oder nach kurzer Friſt zu einem neuen Vertheidigungs-
krieg bereit ſein,
nicht einem jener neumodiſchen „lokaliſirten‟ Kriege,
ſondern einem Racenkrieg, einem Krieg gegen die verbündeten
Slaven und Romanen
. Das iſt die Friedensperſpektive, welche die
hirnkranken Patrioten der Mittelklaſſe Deutſchland „garantiren‟!‟

Jn demſelben Sinne ſprachen ſich die ſozialiſtiſchen Abgeordneten
im deutſchen Reichstag aus, und ſchon am 3. Dezember 1871 machte
Liebknecht darauf aufmerkſam, daß der ruſſiſche Kaiſer „den bruder-
mörderiſchen Krieg Deutſchlands und Frankreichs zur Entzündung der
orientaliſchen Frage benutzte.‟

Die Sache war: Kaum hatte Rußland bemerkt, daß das Bis-
marck’ſche Deutſchland zur Annexion, oder deutſch: zur Eroberung von
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[10/0014] organiſirte „Volksbewegung‟ zum Zweck der Annexion von Elſaß-Loth- ringen. Der Generalrath der Jnternationalen Arbeiteraſſo- ziation erließ damals ein Manifeſt, in welchem es u. A. heißt: „Wie im Jahre 1865 Verſprechungen ausgetauſcht wurden zwiſchen Louis Bonaparte und Bismarck, ſo im Jahre 1870 zwiſchen Bismarck und Gortſchakoff. Wie Louis Bonaparte ſich ſchmeichelte, der Krieg von 1866 werde ihn durch wechſelſeitige Schwächung Oeſterreichs und Preußens zum Schiedsrichter Deutſchlands machen, ſo ſchmeichelte ſich Alexander, der Krieg von 1870 werde ihn durch gemeinſame Er- ſchöpfung Deutſchlands und Frankreichs zum Schiedsrichter des weſt- lichen Continents machen. Wie das zweite Empire den deutſchen Nord- bund unverträglich mit ſeiner eigenen Exiſtenz glaubte, ſo muß ſich das autokratiſche Rußland durch ein deutſches Reich unter preußiſcher Leitung gefährdet halten. Dies iſt das Geſetz des alten politiſchen Syſtems. Jnnerhalb deſſelben iſt der Gewinn eines Staats der Ver- luſt des andern. Der überwiegende Einfluß des Czaren auf Europa wurzelt in ſeinem traditionellen Halt an Deutſchland. Kann er in einem Augenblick, wo in Rußland ſelbſt vulkaniſche ſoziale Kräfte die Grundlage der Autokratie unterwühlen, einen ſolchen Verluſt ſeines auswärtigen „Preſtige‟ ertragen? Bereits wiederholen moskowitiſche Blätter genau die Sprache der bonapartiſtiſchen Blätter nach dem Krieg von 1866. Glauben die teutoniſchen Patrioten ernſthaft, die Unabhängigkeit und den Frieden Deutſchlands dadurch zu „garantiren‟, daß ſie Frankreich in Rußlands Arme werfen? Wenn das Glück der deutſchen Waffen, die Arroganz des Erfolgs und dynaſtiſche Jntriguen zu einer Territorialberaubung Frankreichs verleiten, ſtehen Deutſchland nur noch zwei Wege offen. Es muß auf alle Gefahren hin ſich zum erklärten Werkzeug ruſſiſcher Vergrößerung machen oder nach kurzer Friſt zu einem neuen Vertheidigungs- krieg bereit ſein, nicht einem jener neumodiſchen „lokaliſirten‟ Kriege, ſondern einem Racenkrieg, einem Krieg gegen die verbündeten Slaven und Romanen. Das iſt die Friedensperſpektive, welche die hirnkranken Patrioten der Mittelklaſſe Deutſchland „garantiren‟!‟ Jn demſelben Sinne ſprachen ſich die ſozialiſtiſchen Abgeordneten im deutſchen Reichstag aus, und ſchon am 3. Dezember 1871 machte Liebknecht darauf aufmerkſam, daß der ruſſiſche Kaiſer „den bruder- mörderiſchen Krieg Deutſchlands und Frankreichs zur Entzündung der orientaliſchen Frage benutzte.‟ Die Sache war: Kaum hatte Rußland bemerkt, daß das Bis- marck’ſche Deutſchland zur Annexion, oder deutſch: zur Eroberung von Elſaß-Lothringen entſchloſſen war, ſo notifizirte es den europäiſchen

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/14>, abgerufen am 23.11.2024.