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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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Mächten, daß eine Revision des Pariser Vertrags, dieser bitteren Frucht
des Krimkriegs an der Zeit sein dürfte.

Sobald die Annexion nach furchtbarem Blutvergießen bis auf
Weiteres vollendete Thatsache geworden, notifizirte das Petersburger
Kabinet den Mächten (auch dem neugebackenen deutschen Kaiserreich),
daß sich Rußland durch den Pariser Vertrag nicht mehr gebunden halte.

Was die sozialdemokratischen Abgeordneten unter dem Gebrüll und
Gelächter der "staatsmännischen" Reichstagsmajorität vorausgesagt,
hatte sich erfüllt: Rußland war der Schiedsrichter Europa's;
das preußisch-deutsche Reich, eingekeilt zwischen die russisch-französische
Allianz, der Schleppträger und Vasall Rußlands.

Und die russischen Staatsmänner sind nicht die Leute, die ein
Opfer so leichten Kaufs wieder loslassen. Schwer hat in den letzten
5 Jahren die Faust Rußlands auf Deutschland gelegen -- man denke
nur an die skandalöse Behandlung deutscher Reisender an der russischen
Grenze --, und Schritt für Schritt ist Rußland seinem Ziel: Con-
stantinopel
näher gerückt. Die "Volkserhebung" in der Herzegowina
und Bosnien war Rußlands Werk; die Kriegserklärung der Zwerg-
fürsten von Montenegro und Serbien; die Hinausschleppung des Kriegs
theils durch dem Völkerrecht Hohn sprechende Unterstützung der Serben,
theils durch diplomatische Lahmlegung der Türken; die Auffindung
neuer Streitpunkte, wenn ein alter beseitigt -- das Alles ist das Werk
Rußlands.

Hätte Rußland allein gestanden, es hätte dies schmachvolle Spiel
nicht spielen können. Aber es verfügt über die deutsche Allianz,
und das ist es, was diese unheilvolle Situation herbeigeführt hat. Ob
Fürst Bismarck gut- oder widerwillig die politischen Pfade Rußlands
wandelt, ist in Betreff der Wirkungen vollkommen gleichgültig. Genug:
"der Bien muß". Parirt er nicht Ordre, so droht das Schreckgespenst
der russisch-französischen Allianz. Nicht Schreckgespenst, sondern blutig-
eiserne Realität.

Das sogenannte "Dreikaiserbündniß" verhüllte blos auf kurze Zeit
die häßliche Wahrheit. Jm flagrantesten Widerspruch mit der Logik
der Thatsachen, blieb das "Dreikaiserbündniß" ein frommer Wunsch, um
uns nicht eines härteren Ausdrucks zu bedienen. Kommt es zum Krieg,
so werden die drei "verbündeten" Kaiser nicht auf der nämlichen Seite
kämpfen.

Das preußisch-deutsche Reich aber wird auf Seiten Rußlands stehn.
Es hat keine andere Wahl. Oder will es sich aus den tödtlichen
Krallen des "Erbfeindes" befreien? Kein Zweifel, Fürst Bismarck hat
schon oft daran gedacht, obschon die russische Diplomatie, durch Bona-
parte's Schicksal gewitzigt, sich die bindendsten schriftlichen Garantien

Mächten, daß eine Reviſion des Pariſer Vertrags, dieſer bitteren Frucht
des Krimkriegs an der Zeit ſein dürfte.

Sobald die Annexion nach furchtbarem Blutvergießen bis auf
Weiteres vollendete Thatſache geworden, notifizirte das Petersburger
Kabinet den Mächten (auch dem neugebackenen deutſchen Kaiſerreich),
daß ſich Rußland durch den Pariſer Vertrag nicht mehr gebunden halte.

Was die ſozialdemokratiſchen Abgeordneten unter dem Gebrüll und
Gelächter der „ſtaatsmänniſchen‟ Reichstagsmajorität vorausgeſagt,
hatte ſich erfüllt: Rußland war der Schiedsrichter Europa’s;
das preußiſch-deutſche Reich, eingekeilt zwiſchen die ruſſiſch-franzöſiſche
Allianz, der Schleppträger und Vaſall Rußlands.

Und die ruſſiſchen Staatsmänner ſind nicht die Leute, die ein
Opfer ſo leichten Kaufs wieder loslaſſen. Schwer hat in den letzten
5 Jahren die Fauſt Rußlands auf Deutſchland gelegen — man denke
nur an die ſkandalöſe Behandlung deutſcher Reiſender an der ruſſiſchen
Grenze —, und Schritt für Schritt iſt Rußland ſeinem Ziel: Con-
ſtantinopel
näher gerückt. Die „Volkserhebung‟ in der Herzegowina
und Bosnien war Rußlands Werk; die Kriegserklärung der Zwerg-
fürſten von Montenegro und Serbien; die Hinausſchleppung des Kriegs
theils durch dem Völkerrecht Hohn ſprechende Unterſtützung der Serben,
theils durch diplomatiſche Lahmlegung der Türken; die Auffindung
neuer Streitpunkte, wenn ein alter beſeitigt — das Alles iſt das Werk
Rußlands.

Hätte Rußland allein geſtanden, es hätte dies ſchmachvolle Spiel
nicht ſpielen können. Aber es verfügt über die deutſche Allianz,
und das iſt es, was dieſe unheilvolle Situation herbeigeführt hat. Ob
Fürſt Bismarck gut- oder widerwillig die politiſchen Pfade Rußlands
wandelt, iſt in Betreff der Wirkungen vollkommen gleichgültig. Genug:
„der Bien muß‟. Parirt er nicht Ordre, ſo droht das Schreckgeſpenſt
der ruſſiſch-franzöſiſchen Allianz. Nicht Schreckgeſpenſt, ſondern blutig-
eiſerne Realität.

Das ſogenannte „Dreikaiſerbündniß‟ verhüllte blos auf kurze Zeit
die häßliche Wahrheit. Jm flagranteſten Widerſpruch mit der Logik
der Thatſachen, blieb das „Dreikaiſerbündniß‟ ein frommer Wunſch, um
uns nicht eines härteren Ausdrucks zu bedienen. Kommt es zum Krieg,
ſo werden die drei „verbündeten‟ Kaiſer nicht auf der nämlichen Seite
kämpfen.

Das preußiſch-deutſche Reich aber wird auf Seiten Rußlands ſtehn.
Es hat keine andere Wahl. Oder will es ſich aus den tödtlichen
Krallen des „Erbfeindes‟ befreien? Kein Zweifel, Fürſt Bismarck hat
ſchon oft daran gedacht, obſchon die ruſſiſche Diplomatie, durch Bona-
parte’s Schickſal gewitzigt, ſich die bindendſten ſchriftlichen Garantien

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[11/0015] Mächten, daß eine Reviſion des Pariſer Vertrags, dieſer bitteren Frucht des Krimkriegs an der Zeit ſein dürfte. Sobald die Annexion nach furchtbarem Blutvergießen bis auf Weiteres vollendete Thatſache geworden, notifizirte das Petersburger Kabinet den Mächten (auch dem neugebackenen deutſchen Kaiſerreich), daß ſich Rußland durch den Pariſer Vertrag nicht mehr gebunden halte. Was die ſozialdemokratiſchen Abgeordneten unter dem Gebrüll und Gelächter der „ſtaatsmänniſchen‟ Reichstagsmajorität vorausgeſagt, hatte ſich erfüllt: Rußland war der Schiedsrichter Europa’s; das preußiſch-deutſche Reich, eingekeilt zwiſchen die ruſſiſch-franzöſiſche Allianz, der Schleppträger und Vaſall Rußlands. Und die ruſſiſchen Staatsmänner ſind nicht die Leute, die ein Opfer ſo leichten Kaufs wieder loslaſſen. Schwer hat in den letzten 5 Jahren die Fauſt Rußlands auf Deutſchland gelegen — man denke nur an die ſkandalöſe Behandlung deutſcher Reiſender an der ruſſiſchen Grenze —, und Schritt für Schritt iſt Rußland ſeinem Ziel: Con- ſtantinopel näher gerückt. Die „Volkserhebung‟ in der Herzegowina und Bosnien war Rußlands Werk; die Kriegserklärung der Zwerg- fürſten von Montenegro und Serbien; die Hinausſchleppung des Kriegs theils durch dem Völkerrecht Hohn ſprechende Unterſtützung der Serben, theils durch diplomatiſche Lahmlegung der Türken; die Auffindung neuer Streitpunkte, wenn ein alter beſeitigt — das Alles iſt das Werk Rußlands. Hätte Rußland allein geſtanden, es hätte dies ſchmachvolle Spiel nicht ſpielen können. Aber es verfügt über die deutſche Allianz, und das iſt es, was dieſe unheilvolle Situation herbeigeführt hat. Ob Fürſt Bismarck gut- oder widerwillig die politiſchen Pfade Rußlands wandelt, iſt in Betreff der Wirkungen vollkommen gleichgültig. Genug: „der Bien muß‟. Parirt er nicht Ordre, ſo droht das Schreckgeſpenſt der ruſſiſch-franzöſiſchen Allianz. Nicht Schreckgeſpenſt, ſondern blutig- eiſerne Realität. Das ſogenannte „Dreikaiſerbündniß‟ verhüllte blos auf kurze Zeit die häßliche Wahrheit. Jm flagranteſten Widerſpruch mit der Logik der Thatſachen, blieb das „Dreikaiſerbündniß‟ ein frommer Wunſch, um uns nicht eines härteren Ausdrucks zu bedienen. Kommt es zum Krieg, ſo werden die drei „verbündeten‟ Kaiſer nicht auf der nämlichen Seite kämpfen. Das preußiſch-deutſche Reich aber wird auf Seiten Rußlands ſtehn. Es hat keine andere Wahl. Oder will es ſich aus den tödtlichen Krallen des „Erbfeindes‟ befreien? Kein Zweifel, Fürſt Bismarck hat ſchon oft daran gedacht, obſchon die ruſſiſche Diplomatie, durch Bona- parte’s Schickſal gewitzigt, ſich die bindendſten ſchriftlichen Garantien

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/15>, abgerufen am 21.11.2024.