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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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"größte Militärstaat" in der That nur ein "Riese mit thönernen Füßen"
ist, der alle seine Kräfte zusammenzunehmen hat, um mit der Türkei,
die doch höchstens eine Militärmacht dritten Ranges ist, fertig zu
werden. Dieses Rußland hat aufgehört, in dem Sinne, wie es einer
Allianz des übrigen Europa gegenüber nothwendig wäre, "bündniß-
fähig" zu sein, um einen Ausdruck zu brauchen, dessen Fürst Bismarck
sich vor einigen Jahren mit Bezug auf Frankreich bedient hat.
Das weiß man im Ausland, und läßt sich darum nicht mehr durch
die Bismarck'sche "Neutralitäts"-Politik ins Bockshorn jagen.

Die Sache steht gegenwärtig so: England und Oesterreich sind
entschlossen, unter gewissen Bedingungen zu interveniren und Rußland
Halt! und Zurück! zu gebieten. Die Frage ist nun: Wird Fürst
Bismarck, seiner bisherigen Politik getreu, eine solche Jntervention als
einen Bruch der "Neutralität" bezeichnen und im Namen der "Neu-
tralität" für Rußland Partei ergreifen? Thäte er dies -- und bis
zum vorigen Juli wurde es in Wien als ausgemachte Sache betrachtet
-- so würde allem Vermuthen nach Frankreich sofort an die Seite
Englands und Oesterreichs treten.

Können wir den Fürsten Bismarck der selbstmörderischen Unklugheit
fähig halten, das deutsche Reich, ohne Bundesgenossen in einen Krieg
mit Oesterreich, Frankreich und England zu verwickeln? Wir sagen:
ohne Bundesgenossen, denn Jtalien zählt militärisch nicht und Rußland
braucht seinen letzten Mann in der Türkei und um Polen nieder
zu halten
. Ja, sein letzter Mann wird nicht ausreichen --
war das großmächtige Rußland doch 1862--3, als die Polen sich unter
den denkbar ungünstigsten Bedingungen erhoben hatten, nicht stark genug,
den Aufstand zu dämpfen, der schließlich nur mit preußischer
Hülfe -- Fürst Bismarck war kurz vorher an die Spitze
der Regierung gekommen -- bewältigt werden konnte
.
Wenn jetzt, in Verbindung mit einem europäischen Krieg, Polen sich
erhübe und von England und Oesterreich direkt, von Frankreich indirekt
unterstützt würde, so müßte eine zahlreiche deutsche Armee an
unseren Ostgrenzen konzentrirt und zur Unterdrückung des Aufstandes
verwandt werden.

Wir nannten soeben Oesterreich -- es dürfte gerade jetzt
"opportun" sein, daran zu erinnern, daß die österreichische Re-
gierung während des Krimkrieges den Engländern
und Franzosen gegenüber sich bereit erklärt hatte,
Galizien frei zu geben und für die Wiederherstellung
Polens einzutreten, da dies das einzige Mittel sei,
Europa und speziell Oesterreich von dem russischen
Alp zu befreien
.

„größte Militärſtaat‟ in der That nur ein „Rieſe mit thönernen Füßen‟
iſt, der alle ſeine Kräfte zuſammenzunehmen hat, um mit der Türkei,
die doch höchſtens eine Militärmacht dritten Ranges iſt, fertig zu
werden. Dieſes Rußland hat aufgehört, in dem Sinne, wie es einer
Allianz des übrigen Europa gegenüber nothwendig wäre, „bündniß-
fähig‟ zu ſein, um einen Ausdruck zu brauchen, deſſen Fürſt Bismarck
ſich vor einigen Jahren mit Bezug auf Frankreich bedient hat.
Das weiß man im Ausland, und läßt ſich darum nicht mehr durch
die Bismarck’ſche „Neutralitäts‟-Politik ins Bockshorn jagen.

Die Sache ſteht gegenwärtig ſo: England und Oeſterreich ſind
entſchloſſen, unter gewiſſen Bedingungen zu interveniren und Rußland
Halt! und Zurück! zu gebieten. Die Frage iſt nun: Wird Fürſt
Bismarck, ſeiner bisherigen Politik getreu, eine ſolche Jntervention als
einen Bruch der „Neutralität‟ bezeichnen und im Namen der „Neu-
tralität‟ für Rußland Partei ergreifen? Thäte er dies — und bis
zum vorigen Juli wurde es in Wien als ausgemachte Sache betrachtet
— ſo würde allem Vermuthen nach Frankreich ſofort an die Seite
Englands und Oeſterreichs treten.

Können wir den Fürſten Bismarck der ſelbſtmörderiſchen Unklugheit
fähig halten, das deutſche Reich, ohne Bundesgenoſſen in einen Krieg
mit Oeſterreich, Frankreich und England zu verwickeln? Wir ſagen:
ohne Bundesgenoſſen, denn Jtalien zählt militäriſch nicht und Rußland
braucht ſeinen letzten Mann in der Türkei und um Polen nieder
zu halten
. Ja, ſein letzter Mann wird nicht ausreichen
war das großmächtige Rußland doch 1862—3, als die Polen ſich unter
den denkbar ungünſtigſten Bedingungen erhoben hatten, nicht ſtark genug,
den Aufſtand zu dämpfen, der ſchließlich nur mit preußiſcher
Hülfe — Fürſt Bismarck war kurz vorher an die Spitze
der Regierung gekommen — bewältigt werden konnte
.
Wenn jetzt, in Verbindung mit einem europäiſchen Krieg, Polen ſich
erhübe und von England und Oeſterreich direkt, von Frankreich indirekt
unterſtützt würde, ſo müßte eine zahlreiche deutſche Armee an
unſeren Oſtgrenzen konzentrirt und zur Unterdrückung des Aufſtandes
verwandt werden.

Wir nannten ſoeben Oeſterreich — es dürfte gerade jetzt
„opportun‟ ſein, daran zu erinnern, daß die öſterreichiſche Re-
gierung während des Krimkrieges den Engländern
und Franzoſen gegenüber ſich bereit erklärt hatte,
Galizien frei zu geben und für die Wiederherſtellung
Polens einzutreten, da dies das einzige Mittel ſei,
Europa und ſpeziell Oeſterreich von dem ruſſiſchen
Alp zu befreien
.

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[25/0029] „größte Militärſtaat‟ in der That nur ein „Rieſe mit thönernen Füßen‟ iſt, der alle ſeine Kräfte zuſammenzunehmen hat, um mit der Türkei, die doch höchſtens eine Militärmacht dritten Ranges iſt, fertig zu werden. Dieſes Rußland hat aufgehört, in dem Sinne, wie es einer Allianz des übrigen Europa gegenüber nothwendig wäre, „bündniß- fähig‟ zu ſein, um einen Ausdruck zu brauchen, deſſen Fürſt Bismarck ſich vor einigen Jahren mit Bezug auf Frankreich bedient hat. Das weiß man im Ausland, und läßt ſich darum nicht mehr durch die Bismarck’ſche „Neutralitäts‟-Politik ins Bockshorn jagen. Die Sache ſteht gegenwärtig ſo: England und Oeſterreich ſind entſchloſſen, unter gewiſſen Bedingungen zu interveniren und Rußland Halt! und Zurück! zu gebieten. Die Frage iſt nun: Wird Fürſt Bismarck, ſeiner bisherigen Politik getreu, eine ſolche Jntervention als einen Bruch der „Neutralität‟ bezeichnen und im Namen der „Neu- tralität‟ für Rußland Partei ergreifen? Thäte er dies — und bis zum vorigen Juli wurde es in Wien als ausgemachte Sache betrachtet — ſo würde allem Vermuthen nach Frankreich ſofort an die Seite Englands und Oeſterreichs treten. Können wir den Fürſten Bismarck der ſelbſtmörderiſchen Unklugheit fähig halten, das deutſche Reich, ohne Bundesgenoſſen in einen Krieg mit Oeſterreich, Frankreich und England zu verwickeln? Wir ſagen: ohne Bundesgenoſſen, denn Jtalien zählt militäriſch nicht und Rußland braucht ſeinen letzten Mann in der Türkei und um Polen nieder zu halten. Ja, ſein letzter Mann wird nicht ausreichen — war das großmächtige Rußland doch 1862—3, als die Polen ſich unter den denkbar ungünſtigſten Bedingungen erhoben hatten, nicht ſtark genug, den Aufſtand zu dämpfen, der ſchließlich nur mit preußiſcher Hülfe — Fürſt Bismarck war kurz vorher an die Spitze der Regierung gekommen — bewältigt werden konnte. Wenn jetzt, in Verbindung mit einem europäiſchen Krieg, Polen ſich erhübe und von England und Oeſterreich direkt, von Frankreich indirekt unterſtützt würde, ſo müßte eine zahlreiche deutſche Armee an unſeren Oſtgrenzen konzentrirt und zur Unterdrückung des Aufſtandes verwandt werden. Wir nannten ſoeben Oeſterreich — es dürfte gerade jetzt „opportun‟ ſein, daran zu erinnern, daß die öſterreichiſche Re- gierung während des Krimkrieges den Engländern und Franzoſen gegenüber ſich bereit erklärt hatte, Galizien frei zu geben und für die Wiederherſtellung Polens einzutreten, da dies das einzige Mittel ſei, Europa und ſpeziell Oeſterreich von dem ruſſiſchen Alp zu befreien.

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/29>, abgerufen am 23.11.2024.