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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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reichs oder als Anhängsel Rußlands figuriren, immer als Anhängsel,
das für sich allein nicht gerechnet wird. Auch in Oesterreich thut
man sich noch einigen Zwang an, indeß melden doch selbst "reichstreue"
Blätter, daß in Wien die Aufregung über den "brüsken" Abbruch der
Handelsvertrags-Unterhandlungen sehr groß sei. Ganz ungenirt äußert
sich aber die Erbitterung in England. Der Reden beim letzten Lord-
mayor's-Fest wurde schon erwähnt. Wie nachträglich gemeldet wird, kam
es bei jener Gelegenheit zu einer förmlichen Demonstration. Es waren
gegen 1000 Personen aus allen Klassen und Parteien versammelt; als
der türkische Botschafter erschien, wurde ihm eine förmliche Ovation zu
Theil, während andererseits die gegen Rußland und Preußen resp.
Deutschand gerichten Stellen "mit Gelächter und Hohn" aufge-
nommen wurden. Der deutsche Gesandte, der wissen muß, woher der
Wind bläst, hatte es wohlweislich vorgezogen, durch Abwesenheit zu
glänzen.

Was die gegen Fürst Bismarck geschleuderte Anklage des englischen
Lordoberrichters (Allianz mit Rußland zur Theilung der Türkei) be-
trifft, so haben wir dabei natürlich nicht an eine Theilung zwischen
Preußisch-Deutschland und Rußland
zu denken. Eine solche
Absurdität konnte dem englischen Staatsmann nicht einfallen. Der
Plan, welchen er dem Fürsten Bismarck in die Schuhe schiebt, ist:
Zerstückelung der Türkei durch Errichtung schein-unabhängiger Staaten,
die in Wirklichkeit russische Vasallenstaaten wären. "Aber, wendet viel-
leicht der Eine und Andere ein, Fürst Bismarck ist doch nicht so --
uneigennützig, blos für russischen Nutzen zu arbeiten." Das glaubt
auch der englische Lordoberrichter nicht. Allein er glaubt, daß, wenn
einmal die Türkei zerdrückt und die ganze slavische Welt unter russische
Botmäßigkeit gebracht ist, Oesterreich nicht fortexistiren
kann, und Deutsch-Oesterreich dann "von selbst" an
das Deutsche Reich fallen, die übrigen Bestandtheile
Oesterreichs dagegen in dem slavischen "Urbrei" auf-
gehen würden
. Und das ist durchaus nicht unvernünftig.

Wir sehen, was man der deutschen Politik im Auslande zutraut.
Daß das Mißtrauen unbegründet sei, wird im Ernst Niemand behaupten.

Ob die Furcht, auf welche Fürst Bismarck nach dem Vorbild
jenes römischen Despoten einst baute (oderint dum metuant -- sie
mögen mich hassen, wenn sie mich nur fürchten) noch vorhanden ist
und die Wirkungen der nicht vorhandenen Liebe ersetzt, das dürfte zum
Mindesten zweifelhaft sein. Was man bis zum Sommer dieses Jahres
fürchtete, das war das mit dem größten Militärstaat der
Welt verbündete Deutsche Reich
. Seidem ist nun in Bulgarien
und Rumänien der unwiderlegliche Beweis geliefert worden, daß jener

reichs oder als Anhängſel Rußlands figuriren, immer als Anhängſel,
das für ſich allein nicht gerechnet wird. Auch in Oeſterreich thut
man ſich noch einigen Zwang an, indeß melden doch ſelbſt „reichstreue‟
Blätter, daß in Wien die Aufregung über den „brüsken‟ Abbruch der
Handelsvertrags-Unterhandlungen ſehr groß ſei. Ganz ungenirt äußert
ſich aber die Erbitterung in England. Der Reden beim letzten Lord-
mayor’s-Feſt wurde ſchon erwähnt. Wie nachträglich gemeldet wird, kam
es bei jener Gelegenheit zu einer förmlichen Demonſtration. Es waren
gegen 1000 Perſonen aus allen Klaſſen und Parteien verſammelt; als
der türkiſche Botſchafter erſchien, wurde ihm eine förmliche Ovation zu
Theil, während andererſeits die gegen Rußland und Preußen reſp.
Deutſchand gerichten Stellen „mit Gelächter und Hohn‟ aufge-
nommen wurden. Der deutſche Geſandte, der wiſſen muß, woher der
Wind bläſt, hatte es wohlweislich vorgezogen, durch Abweſenheit zu
glänzen.

Was die gegen Fürſt Bismarck geſchleuderte Anklage des engliſchen
Lordoberrichters (Allianz mit Rußland zur Theilung der Türkei) be-
trifft, ſo haben wir dabei natürlich nicht an eine Theilung zwiſchen
Preußiſch-Deutſchland und Rußland
zu denken. Eine ſolche
Abſurdität konnte dem engliſchen Staatsmann nicht einfallen. Der
Plan, welchen er dem Fürſten Bismarck in die Schuhe ſchiebt, iſt:
Zerſtückelung der Türkei durch Errichtung ſchein-unabhängiger Staaten,
die in Wirklichkeit ruſſiſche Vaſallenſtaaten wären. „Aber, wendet viel-
leicht der Eine und Andere ein, Fürſt Bismarck iſt doch nicht ſo —
uneigennützig, blos für ruſſiſchen Nutzen zu arbeiten.‟ Das glaubt
auch der engliſche Lordoberrichter nicht. Allein er glaubt, daß, wenn
einmal die Türkei zerdrückt und die ganze ſlaviſche Welt unter ruſſiſche
Botmäßigkeit gebracht iſt, Oeſterreich nicht fortexiſtiren
kann, und Deutſch-Oeſterreich dann „von ſelbſt‟ an
das Deutſche Reich fallen, die übrigen Beſtandtheile
Oeſterreichs dagegen in dem ſlaviſchen „Urbrei‟ auf-
gehen würden
. Und das iſt durchaus nicht unvernünftig.

Wir ſehen, was man der deutſchen Politik im Auslande zutraut.
Daß das Mißtrauen unbegründet ſei, wird im Ernſt Niemand behaupten.

Ob die Furcht, auf welche Fürſt Bismarck nach dem Vorbild
jenes römiſchen Despoten einſt baute (oderint dum metuant — ſie
mögen mich haſſen, wenn ſie mich nur fürchten) noch vorhanden iſt
und die Wirkungen der nicht vorhandenen Liebe erſetzt, das dürfte zum
Mindeſten zweifelhaft ſein. Was man bis zum Sommer dieſes Jahres
fürchtete, das war das mit dem größten Militärſtaat der
Welt verbündete Deutſche Reich
. Seidem iſt nun in Bulgarien
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[24/0028] reichs oder als Anhängſel Rußlands figuriren, immer als Anhängſel, das für ſich allein nicht gerechnet wird. Auch in Oeſterreich thut man ſich noch einigen Zwang an, indeß melden doch ſelbſt „reichstreue‟ Blätter, daß in Wien die Aufregung über den „brüsken‟ Abbruch der Handelsvertrags-Unterhandlungen ſehr groß ſei. Ganz ungenirt äußert ſich aber die Erbitterung in England. Der Reden beim letzten Lord- mayor’s-Feſt wurde ſchon erwähnt. Wie nachträglich gemeldet wird, kam es bei jener Gelegenheit zu einer förmlichen Demonſtration. Es waren gegen 1000 Perſonen aus allen Klaſſen und Parteien verſammelt; als der türkiſche Botſchafter erſchien, wurde ihm eine förmliche Ovation zu Theil, während andererſeits die gegen Rußland und Preußen reſp. Deutſchand gerichten Stellen „mit Gelächter und Hohn‟ aufge- nommen wurden. Der deutſche Geſandte, der wiſſen muß, woher der Wind bläſt, hatte es wohlweislich vorgezogen, durch Abweſenheit zu glänzen. Was die gegen Fürſt Bismarck geſchleuderte Anklage des engliſchen Lordoberrichters (Allianz mit Rußland zur Theilung der Türkei) be- trifft, ſo haben wir dabei natürlich nicht an eine Theilung zwiſchen Preußiſch-Deutſchland und Rußland zu denken. Eine ſolche Abſurdität konnte dem engliſchen Staatsmann nicht einfallen. Der Plan, welchen er dem Fürſten Bismarck in die Schuhe ſchiebt, iſt: Zerſtückelung der Türkei durch Errichtung ſchein-unabhängiger Staaten, die in Wirklichkeit ruſſiſche Vaſallenſtaaten wären. „Aber, wendet viel- leicht der Eine und Andere ein, Fürſt Bismarck iſt doch nicht ſo — uneigennützig, blos für ruſſiſchen Nutzen zu arbeiten.‟ Das glaubt auch der engliſche Lordoberrichter nicht. Allein er glaubt, daß, wenn einmal die Türkei zerdrückt und die ganze ſlaviſche Welt unter ruſſiſche Botmäßigkeit gebracht iſt, Oeſterreich nicht fortexiſtiren kann, und Deutſch-Oeſterreich dann „von ſelbſt‟ an das Deutſche Reich fallen, die übrigen Beſtandtheile Oeſterreichs dagegen in dem ſlaviſchen „Urbrei‟ auf- gehen würden. Und das iſt durchaus nicht unvernünftig. Wir ſehen, was man der deutſchen Politik im Auslande zutraut. Daß das Mißtrauen unbegründet ſei, wird im Ernſt Niemand behaupten. Ob die Furcht, auf welche Fürſt Bismarck nach dem Vorbild jenes römiſchen Despoten einſt baute (oderint dum metuant — ſie mögen mich haſſen, wenn ſie mich nur fürchten) noch vorhanden iſt und die Wirkungen der nicht vorhandenen Liebe erſetzt, das dürfte zum Mindeſten zweifelhaft ſein. Was man bis zum Sommer dieſes Jahres fürchtete, das war das mit dem größten Militärſtaat der Welt verbündete Deutſche Reich. Seidem iſt nun in Bulgarien und Rumänien der unwiderlegliche Beweis geliefert worden, daß jener

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/28>, abgerufen am 21.11.2024.