Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

Bild:
<< vorherige Seite

am europäischen Schachbrett haben sich wieder gruppirt -- dort
Oesterreich, England, Frankreich, die Türkei -- hier Rußland und
das deutsche Reich.

Die Situation ist ernst -- es wäre thöricht, wollten wir uns
darüber selbst belügen.

Dank der Bismarck'schen Politik befindet das deutsche Reich --
ob eine förmliche "Allianz" existirt, ist gleichgültig -- sich in politischer
Abhängigkeit von Rußland
. Statt die kritische Lage Rußlands
im Spätsommer und Frühherbst dazu zu benutzen, Deutschland von
Rußland zu emanzipiren
, hat Fürst Bismarck sie, umgekehrt,
dazu benutzt, seine Politik vollständig mit der russischen zu
identifiziren
. Das ganze civilisirte Europa schaart sich gegen
unseren "Erbfreund" und natürlich auch gegen dessen Helfershelfer
zusammen, und es frägt sich nun, ob das deutsche Volk, falls Europa
sich wirklich dazu ermannen sollte, der russischen Mordbrennerei ein
Ziel zu setzen, -- ob das deutsche Volk dann gewillt ist, dem "Väter-
chen", an dessen Händen seit kaum einem halben Jahr das Blut einer
Viertelmillion Menschen klebt, Heerfolge zu leisten, und Hand in Hand
mit dem Barbarenstaat Rußland an der Spitze der Civilisation --
der Knute zu marschiren?



II.
("Socialdemokratische Correspondenz" vom 19. Nov. 1877.)

Die vollständige Jsolirtheit des deutschen Reichs in der gegen-
wärtigen europäischen Krise ist eine so augenfällige Thatsache, daß selbst
die Bismarck'sche "Norddeutsche Allgemeine Zeitung" bereits von einer
gegen Deutschland gerichteten Quadrupel-Allianz zu reden beginnt.
So viel steht fest, von allen geflügelten Worten unseres "genialen"
Staatsmannes hat keines sich besser bewahrheitet als das anläßlich der
Annexion von Elsaß-Lothringen gesprochene: "Geliebt sind wir nir-
gends
." Der Beisatz: "aber überall gefürchtet" (das war wenig-
stens der Sinn) hat nicht so gut Farbe gehalten. Nein, wir sind nir-
gends geliebt. Wenn wir von unserem sauberen "Erbfreund" absehen,
der sich gleich dem Meergreis in "Tausend und Eine Nacht" auf
unseren Rücken geschwungen hat und uns mit seiner Umarmung zu er-
drosseln droht, finden wir überall Mißtrauen, Abneigung, Haß. Jn
Oesterreich, England, Frankreich herrscht absolute Einstimmigkeit in Be-
urtheilung und Verurtheilung der deutschen Politik. Und das sind die
einzigen Staaten, die ins Gewicht fallen. Sollte Jtalien berufen werden,
eine aktive Rolle zu spielen, so würde es entweder als Anhängsel Frank-

am europäiſchen Schachbrett haben ſich wieder gruppirt — dort
Oeſterreich, England, Frankreich, die Türkei — hier Rußland und
das deutſche Reich.

Die Situation iſt ernſt — es wäre thöricht, wollten wir uns
darüber ſelbſt belügen.

Dank der Bismarck’ſchen Politik befindet das deutſche Reich —
ob eine förmliche „Allianz‟ exiſtirt, iſt gleichgültig — ſich in politiſcher
Abhängigkeit von Rußland
. Statt die kritiſche Lage Rußlands
im Spätſommer und Frühherbſt dazu zu benutzen, Deutſchland von
Rußland zu emanzipiren
, hat Fürſt Bismarck ſie, umgekehrt,
dazu benutzt, ſeine Politik vollſtändig mit der ruſſiſchen zu
identifiziren
. Das ganze civiliſirte Europa ſchaart ſich gegen
unſeren „Erbfreund‟ und natürlich auch gegen deſſen Helfershelfer
zuſammen, und es frägt ſich nun, ob das deutſche Volk, falls Europa
ſich wirklich dazu ermannen ſollte, der ruſſiſchen Mordbrennerei ein
Ziel zu ſetzen, — ob das deutſche Volk dann gewillt iſt, dem „Väter-
chen‟, an deſſen Händen ſeit kaum einem halben Jahr das Blut einer
Viertelmillion Menſchen klebt, Heerfolge zu leiſten, und Hand in Hand
mit dem Barbarenſtaat Rußland an der Spitze der Civiliſation —
der Knute zu marſchiren?



II.
(„Socialdemokratiſche Correſpondenz‟ vom 19. Nov. 1877.)

Die vollſtändige Jſolirtheit des deutſchen Reichs in der gegen-
wärtigen europäiſchen Kriſe iſt eine ſo augenfällige Thatſache, daß ſelbſt
die Bismarck’ſche „Norddeutſche Allgemeine Zeitung‟ bereits von einer
gegen Deutſchland gerichteten Quadrupel-Allianz zu reden beginnt.
So viel ſteht feſt, von allen geflügelten Worten unſeres „genialen‟
Staatsmannes hat keines ſich beſſer bewahrheitet als das anläßlich der
Annexion von Elſaß-Lothringen geſprochene: „Geliebt ſind wir nir-
gends
.‟ Der Beiſatz: „aber überall gefürchtet‟ (das war wenig-
ſtens der Sinn) hat nicht ſo gut Farbe gehalten. Nein, wir ſind nir-
gends geliebt. Wenn wir von unſerem ſauberen „Erbfreund‟ abſehen,
der ſich gleich dem Meergreis in „Tauſend und Eine Nacht‟ auf
unſeren Rücken geſchwungen hat und uns mit ſeiner Umarmung zu er-
droſſeln droht, finden wir überall Mißtrauen, Abneigung, Haß. Jn
Oeſterreich, England, Frankreich herrſcht abſolute Einſtimmigkeit in Be-
urtheilung und Verurtheilung der deutſchen Politik. Und das ſind die
einzigen Staaten, die ins Gewicht fallen. Sollte Jtalien berufen werden,
eine aktive Rolle zu ſpielen, ſo würde es entweder als Anhängſel Frank-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0027" n="23"/>
am europäi&#x017F;chen Schachbrett haben &#x017F;ich wieder gruppirt &#x2014; <hi rendition="#g">dort</hi><lb/>
Oe&#x017F;terreich, England, Frankreich, die Türkei &#x2014; <hi rendition="#g">hier</hi> Rußland und<lb/>
das <hi rendition="#g">deut&#x017F;che Reich</hi>.</p><lb/>
          <p>Die Situation i&#x017F;t ern&#x017F;t &#x2014; es wäre thöricht, wollten wir uns<lb/>
darüber &#x017F;elb&#x017F;t belügen.</p><lb/>
          <p>Dank der Bismarck&#x2019;&#x017F;chen Politik befindet das deut&#x017F;che Reich &#x2014;<lb/>
ob eine förmliche &#x201E;Allianz&#x201F; exi&#x017F;tirt, i&#x017F;t gleichgültig &#x2014; &#x017F;ich in <hi rendition="#g">politi&#x017F;cher<lb/>
Abhängigkeit von Rußland</hi>. Statt die kriti&#x017F;che Lage Rußlands<lb/>
im Spät&#x017F;ommer und Frühherb&#x017F;t dazu zu benutzen, <hi rendition="#g">Deut&#x017F;chland von<lb/>
Rußland zu emanzipiren</hi>, hat Für&#x017F;t Bismarck &#x017F;ie, umgekehrt,<lb/>
dazu benutzt, &#x017F;eine Politik <hi rendition="#g">voll&#x017F;tändig mit der ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen zu<lb/>
identifiziren</hi>. Das ganze civili&#x017F;irte Europa &#x017F;chaart &#x017F;ich gegen<lb/>
un&#x017F;eren &#x201E;Erbfreund&#x201F; und natürlich auch gegen de&#x017F;&#x017F;en Helfershelfer<lb/>
zu&#x017F;ammen, und es frägt &#x017F;ich nun, ob das deut&#x017F;che Volk, falls Europa<lb/>
&#x017F;ich wirklich dazu ermannen &#x017F;ollte, der ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Mordbrennerei ein<lb/>
Ziel zu &#x017F;etzen, &#x2014; ob das deut&#x017F;che Volk dann gewillt i&#x017F;t, dem &#x201E;Väter-<lb/>
chen&#x201F;, an de&#x017F;&#x017F;en Händen &#x017F;eit kaum einem halben Jahr das Blut einer<lb/>
Viertelmillion Men&#x017F;chen klebt, Heerfolge zu lei&#x017F;ten, und Hand in Hand<lb/>
mit dem Barbaren&#x017F;taat Rußland an der Spitze der Civili&#x017F;ation &#x2014;<lb/>
der <hi rendition="#g">Knute</hi> zu mar&#x017F;chiren?</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#aq">II.</hi><lb/>
(&#x201E;Socialdemokrati&#x017F;che Corre&#x017F;pondenz&#x201F; vom 19. Nov. 1877.)</head><lb/>
          <p>Die voll&#x017F;tändige J&#x017F;olirtheit des deut&#x017F;chen Reichs in der gegen-<lb/>
wärtigen europäi&#x017F;chen Kri&#x017F;e i&#x017F;t eine &#x017F;o augenfällige That&#x017F;ache, daß &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
die Bismarck&#x2019;&#x017F;che &#x201E;Norddeut&#x017F;che Allgemeine Zeitung&#x201F; bereits von einer<lb/>
gegen Deut&#x017F;chland gerichteten <hi rendition="#g">Quadrupel-Allianz</hi> zu reden beginnt.<lb/>
So viel &#x017F;teht fe&#x017F;t, von allen geflügelten Worten un&#x017F;eres &#x201E;genialen&#x201F;<lb/>
Staatsmannes hat keines &#x017F;ich be&#x017F;&#x017F;er bewahrheitet als das anläßlich der<lb/>
Annexion von El&#x017F;aß-Lothringen ge&#x017F;prochene: &#x201E;<hi rendition="#g">Geliebt &#x017F;ind wir nir-<lb/>
gends</hi>.&#x201F; Der Bei&#x017F;atz: &#x201E;aber überall <hi rendition="#g">gefürchtet</hi>&#x201F; (das war wenig-<lb/>
&#x017F;tens der Sinn) hat nicht &#x017F;o gut Farbe gehalten. Nein, wir &#x017F;ind nir-<lb/>
gends geliebt. Wenn wir von un&#x017F;erem &#x017F;auberen &#x201E;Erbfreund&#x201F; ab&#x017F;ehen,<lb/>
der &#x017F;ich gleich dem <hi rendition="#g">Meergreis</hi> in &#x201E;Tau&#x017F;end und Eine Nacht&#x201F; auf<lb/>
un&#x017F;eren Rücken ge&#x017F;chwungen hat und uns mit &#x017F;einer Umarmung zu er-<lb/>
dro&#x017F;&#x017F;eln droht, finden wir überall Mißtrauen, Abneigung, Haß. Jn<lb/>
Oe&#x017F;terreich, England, Frankreich herr&#x017F;cht ab&#x017F;olute Ein&#x017F;timmigkeit in Be-<lb/>
urtheilung und Verurtheilung der deut&#x017F;chen Politik. Und das &#x017F;ind die<lb/>
einzigen Staaten, die ins Gewicht fallen. Sollte Jtalien berufen werden,<lb/>
eine aktive Rolle zu &#x017F;pielen, &#x017F;o würde es entweder als Anhäng&#x017F;el Frank-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[23/0027] am europäiſchen Schachbrett haben ſich wieder gruppirt — dort Oeſterreich, England, Frankreich, die Türkei — hier Rußland und das deutſche Reich. Die Situation iſt ernſt — es wäre thöricht, wollten wir uns darüber ſelbſt belügen. Dank der Bismarck’ſchen Politik befindet das deutſche Reich — ob eine förmliche „Allianz‟ exiſtirt, iſt gleichgültig — ſich in politiſcher Abhängigkeit von Rußland. Statt die kritiſche Lage Rußlands im Spätſommer und Frühherbſt dazu zu benutzen, Deutſchland von Rußland zu emanzipiren, hat Fürſt Bismarck ſie, umgekehrt, dazu benutzt, ſeine Politik vollſtändig mit der ruſſiſchen zu identifiziren. Das ganze civiliſirte Europa ſchaart ſich gegen unſeren „Erbfreund‟ und natürlich auch gegen deſſen Helfershelfer zuſammen, und es frägt ſich nun, ob das deutſche Volk, falls Europa ſich wirklich dazu ermannen ſollte, der ruſſiſchen Mordbrennerei ein Ziel zu ſetzen, — ob das deutſche Volk dann gewillt iſt, dem „Väter- chen‟, an deſſen Händen ſeit kaum einem halben Jahr das Blut einer Viertelmillion Menſchen klebt, Heerfolge zu leiſten, und Hand in Hand mit dem Barbarenſtaat Rußland an der Spitze der Civiliſation — der Knute zu marſchiren? II. („Socialdemokratiſche Correſpondenz‟ vom 19. Nov. 1877.) Die vollſtändige Jſolirtheit des deutſchen Reichs in der gegen- wärtigen europäiſchen Kriſe iſt eine ſo augenfällige Thatſache, daß ſelbſt die Bismarck’ſche „Norddeutſche Allgemeine Zeitung‟ bereits von einer gegen Deutſchland gerichteten Quadrupel-Allianz zu reden beginnt. So viel ſteht feſt, von allen geflügelten Worten unſeres „genialen‟ Staatsmannes hat keines ſich beſſer bewahrheitet als das anläßlich der Annexion von Elſaß-Lothringen geſprochene: „Geliebt ſind wir nir- gends.‟ Der Beiſatz: „aber überall gefürchtet‟ (das war wenig- ſtens der Sinn) hat nicht ſo gut Farbe gehalten. Nein, wir ſind nir- gends geliebt. Wenn wir von unſerem ſauberen „Erbfreund‟ abſehen, der ſich gleich dem Meergreis in „Tauſend und Eine Nacht‟ auf unſeren Rücken geſchwungen hat und uns mit ſeiner Umarmung zu er- droſſeln droht, finden wir überall Mißtrauen, Abneigung, Haß. Jn Oeſterreich, England, Frankreich herrſcht abſolute Einſtimmigkeit in Be- urtheilung und Verurtheilung der deutſchen Politik. Und das ſind die einzigen Staaten, die ins Gewicht fallen. Sollte Jtalien berufen werden, eine aktive Rolle zu ſpielen, ſo würde es entweder als Anhängſel Frank-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/27
Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/27>, abgerufen am 03.12.2024.