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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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Nationalitäten proklamiren. Es sind jetzt nahezu 10 Jahre her, da
berührte ich diesen Punkt auf dem Rürnberger Arbeitertag. Jn der
Debatte über das System der stehenden Heere sagte ich damals (S.
"Demokratisches Wochenblatt vom 26. Dezember 1868):

"Einer der Vorredner hat für die allgemeine Entwaffnung ge-
sprochen. Auch ich bin dafür. Aber sie kann erst eintreten, wenn alle
Feinde der Völker unschädlich gemacht sind. Und das wird noch lange
dauern. Für Deutschland und Frankreich scheint mir die Stunde der
Befreiung nicht sehr fern. Doch mit unserer Befreiung sind wir noch
nicht am Ziele, es bleibt uns noch eine blutige Arbeit zu verrichten
und eine heilige Pflicht zu erfüllen: die Zertrümmrung Ruß-
lands, die Wiederherstellung Polens.
Jst dem russischen
Doppelaar das nach Westen gekehrte Haupt abgeschlagen; haben wir
an Polen die Verbrechen unserer Fürsten, namentlich des treulosesten
und undeutschesten unter ihnen, Friedrichs des -- "Großen", wie die
Geschichtsfälscher ihn nennen, gesühnt; ist der Despotismus aus seinem
letzten Schlupfwinkel vertrieben, dann, aber auch erst dann können die
Völker entwaffnen. Bis dahin müssen wir festhalten an unserer For-
derung der allgemeinen Volksbewaffnung: Jeder Bürger
soldat, jeder Soldat Bürger!
" --

Die "freiheitsdürstenden Südslaven" -- sie sind gerade so
wirklich, wie die südrussischen Dörfer, die Potemkin einst der russi-
schen Kaiserin Katharina auf Pappendeckeln vormalte. Bis dato hat
an Ort und Stelle noch kein Exemplar entdeckt werden können. Czar
Nikolaus sagte einmal: "eine Armee auf dem Papier thut dieselben
Dienste, wie eine wirkliche, und ist viel billiger." "Freiheitsdürstende
Südslaven" auf dem Papier thun auch ihre guten Dienste.

Doch die "christlichen Brüder!" "Unterdrückt" von den "heid-
nischen
" Türken! "Christlich" und "heidnisch" -- blauer Dunst für
den gedankenlosen Haufen. Jm Lande Lessing's, 100 Jahre nach
"Nathan der Weise" nicht ernsthaft zu diskutiren. Und "unterdrückt!"
Die muhamedanische Religion ist die einzige tolerante Religion, sie
"unterdrückt" den Andersglaubenden nicht, ja verbrennt ihn nicht ein-
mal, wie das berechtigte Eigenthümlichkeit des Christenthums ist,
wo es kann. Die Christen in der Türkei haben die unbeschränkteste
Selbstverwaltung nicht bloß in religiösen Dingen sondern auch in Ge-
meindeangelegenheiten, und leben in einem Wohlstand, der die mit einem
funktionirenden Hirn versehenen russischen "Befreier" nicht wenig er-
staunte. "Es geht diesen Bulgaren ja zehnmal besser als unseren Bauern!"
war, nach den Berichten englischer Correspondenten, der verwunderte
Ausruf der russischen Ossiziere beim Betreten der ersten bulgarischen
Dörfer. Und so ist's. "Väterchen" sollte vor der eigenen Thür fegen,

Nationalitäten proklamiren. Es ſind jetzt nahezu 10 Jahre her, da
berührte ich dieſen Punkt auf dem Rürnberger Arbeitertag. Jn der
Debatte über das Syſtem der ſtehenden Heere ſagte ich damals (S.
„Demokratiſches Wochenblatt vom 26. Dezember 1868):

„Einer der Vorredner hat für die allgemeine Entwaffnung ge-
ſprochen. Auch ich bin dafür. Aber ſie kann erſt eintreten, wenn alle
Feinde der Völker unſchädlich gemacht ſind. Und das wird noch lange
dauern. Für Deutſchland und Frankreich ſcheint mir die Stunde der
Befreiung nicht ſehr fern. Doch mit unſerer Befreiung ſind wir noch
nicht am Ziele, es bleibt uns noch eine blutige Arbeit zu verrichten
und eine heilige Pflicht zu erfüllen: die Zertrümmrung Ruß-
lands, die Wiederherſtellung Polens.
Jſt dem ruſſiſchen
Doppelaar das nach Weſten gekehrte Haupt abgeſchlagen; haben wir
an Polen die Verbrechen unſerer Fürſten, namentlich des treuloſeſten
und undeutſcheſten unter ihnen, Friedrichs des — „Großen‟, wie die
Geſchichtsfälſcher ihn nennen, geſühnt; iſt der Despotismus aus ſeinem
letzten Schlupfwinkel vertrieben, dann, aber auch erſt dann können die
Völker entwaffnen. Bis dahin müſſen wir feſthalten an unſerer For-
derung der allgemeinen Volksbewaffnung: Jeder Bürger
ſoldat, jeder Soldat Bürger!
‟ —

Die „freiheitsdürſtenden Südſlaven‟ — ſie ſind gerade ſo
wirklich, wie die ſüdruſſiſchen Dörfer, die Potemkin einſt der ruſſi-
ſchen Kaiſerin Katharina auf Pappendeckeln vormalte. Bis dato hat
an Ort und Stelle noch kein Exemplar entdeckt werden können. Czar
Nikolaus ſagte einmal: „eine Armee auf dem Papier thut dieſelben
Dienſte, wie eine wirkliche, und iſt viel billiger.‟ „Freiheitsdürſtende
Südſlaven‟ auf dem Papier thun auch ihre guten Dienſte.

Doch die „chriſtlichen Brüder!‟ „Unterdrückt‟ von den „heid-
niſchen
‟ Türken! „Chriſtlich‟ und „heidniſch‟ — blauer Dunſt für
den gedankenloſen Haufen. Jm Lande Leſſing’s, 100 Jahre nach
„Nathan der Weiſe‟ nicht ernſthaft zu diskutiren. Und „unterdrückt!‟
Die muhamedaniſche Religion iſt die einzige tolerante Religion, ſie
„unterdrückt‟ den Andersglaubenden nicht, ja verbrennt ihn nicht ein-
mal, wie das berechtigte Eigenthümlichkeit des Chriſtenthums iſt,
wo es kann. Die Chriſten in der Türkei haben die unbeſchränkteſte
Selbſtverwaltung nicht bloß in religiöſen Dingen ſondern auch in Ge-
meindeangelegenheiten, und leben in einem Wohlſtand, der die mit einem
funktionirenden Hirn verſehenen ruſſiſchen „Befreier‟ nicht wenig er-
ſtaunte. „Es geht dieſen Bulgaren ja zehnmal beſſer als unſeren Bauern!‟
war, nach den Berichten engliſcher Correſpondenten, der verwunderte
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Dörfer. Und ſo iſt’s. „Väterchen‟ ſollte vor der eigenen Thür fegen,

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[44/0048] Nationalitäten proklamiren. Es ſind jetzt nahezu 10 Jahre her, da berührte ich dieſen Punkt auf dem Rürnberger Arbeitertag. Jn der Debatte über das Syſtem der ſtehenden Heere ſagte ich damals (S. „Demokratiſches Wochenblatt vom 26. Dezember 1868): „Einer der Vorredner hat für die allgemeine Entwaffnung ge- ſprochen. Auch ich bin dafür. Aber ſie kann erſt eintreten, wenn alle Feinde der Völker unſchädlich gemacht ſind. Und das wird noch lange dauern. Für Deutſchland und Frankreich ſcheint mir die Stunde der Befreiung nicht ſehr fern. Doch mit unſerer Befreiung ſind wir noch nicht am Ziele, es bleibt uns noch eine blutige Arbeit zu verrichten und eine heilige Pflicht zu erfüllen: die Zertrümmrung Ruß- lands, die Wiederherſtellung Polens. Jſt dem ruſſiſchen Doppelaar das nach Weſten gekehrte Haupt abgeſchlagen; haben wir an Polen die Verbrechen unſerer Fürſten, namentlich des treuloſeſten und undeutſcheſten unter ihnen, Friedrichs des — „Großen‟, wie die Geſchichtsfälſcher ihn nennen, geſühnt; iſt der Despotismus aus ſeinem letzten Schlupfwinkel vertrieben, dann, aber auch erſt dann können die Völker entwaffnen. Bis dahin müſſen wir feſthalten an unſerer For- derung der allgemeinen Volksbewaffnung: Jeder Bürger ſoldat, jeder Soldat Bürger!‟ — Die „freiheitsdürſtenden Südſlaven‟ — ſie ſind gerade ſo wirklich, wie die ſüdruſſiſchen Dörfer, die Potemkin einſt der ruſſi- ſchen Kaiſerin Katharina auf Pappendeckeln vormalte. Bis dato hat an Ort und Stelle noch kein Exemplar entdeckt werden können. Czar Nikolaus ſagte einmal: „eine Armee auf dem Papier thut dieſelben Dienſte, wie eine wirkliche, und iſt viel billiger.‟ „Freiheitsdürſtende Südſlaven‟ auf dem Papier thun auch ihre guten Dienſte. Doch die „chriſtlichen Brüder!‟ „Unterdrückt‟ von den „heid- niſchen‟ Türken! „Chriſtlich‟ und „heidniſch‟ — blauer Dunſt für den gedankenloſen Haufen. Jm Lande Leſſing’s, 100 Jahre nach „Nathan der Weiſe‟ nicht ernſthaft zu diskutiren. Und „unterdrückt!‟ Die muhamedaniſche Religion iſt die einzige tolerante Religion, ſie „unterdrückt‟ den Andersglaubenden nicht, ja verbrennt ihn nicht ein- mal, wie das berechtigte Eigenthümlichkeit des Chriſtenthums iſt, wo es kann. Die Chriſten in der Türkei haben die unbeſchränkteſte Selbſtverwaltung nicht bloß in religiöſen Dingen ſondern auch in Ge- meindeangelegenheiten, und leben in einem Wohlſtand, der die mit einem funktionirenden Hirn verſehenen ruſſiſchen „Befreier‟ nicht wenig er- ſtaunte. „Es geht dieſen Bulgaren ja zehnmal beſſer als unſeren Bauern!‟ war, nach den Berichten engliſcher Correſpondenten, der verwunderte Ausruf der ruſſiſchen Oſſiziere beim Betreten der erſten bulgariſchen Dörfer. Und ſo iſt’s. „Väterchen‟ ſollte vor der eigenen Thür fegen,

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/48>, abgerufen am 23.11.2024.