Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.und seine christlichen Unterthanen und Brüder mit ein Bischen Die Türkei soll "reformiren"! Aber so wie Rußland es will: sie "Aber diese Verfassung war nur durch die Noth erpreßt, sie ist Nun ist's anders. Wird Friede geschlossen, so wird's ein fauler Jn keinem Fall ist jetzt die Lösung der orientalischen Frage zu Gelöst wird die orientalische Frage erst werden, wenn in den und ſeine chriſtlichen Unterthanen und Brüder mit ein Bischen Die Türkei ſoll „reformiren‟! Aber ſo wie Rußland es will: ſie „Aber dieſe Verfaſſung war nur durch die Noth erpreßt, ſie iſt Nun iſt’s anders. Wird Friede geſchloſſen, ſo wird’s ein fauler Jn keinem Fall iſt jetzt die Löſung der orientaliſchen Frage zu Gelöſt wird die orientaliſche Frage erſt werden, wenn in den <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0049" n="45"/> und <hi rendition="#g">ſeine chriſtlichen</hi> Unterthanen und Brüder mit ein Bischen<lb/> heidniſch-türkiſcher Freiheit beſchenken. Doch das paßt nicht ins Knuten-<lb/> ſyſtem. <hi rendition="#g">Reformen daheim?</hi> Wer ſie fordert, wird nach <hi rendition="#g">Sibi-<lb/> rien</hi> geſchickt. Die „Reformen‟, die „Freiheit‟ ſind, gleich der „Hu-<lb/> manität‟ und anderen ähnlichen Waaren, bloß <hi rendition="#g">Exportartikel</hi> für<lb/> den <hi rendition="#g">auswärtigen</hi> Markt.</p><lb/> <p>Die Türkei ſoll „reformiren‟! Aber ſo wie Rußland es will: ſie<lb/> ſoll ſich zu <hi rendition="#g">Tod</hi> reformiren. Alſo bei Leib keine durchgreifenden, die<lb/> Staatsſchäden gründlich beſeitigenden Reformen! Sie würden ja die<lb/> Türkei ſtärken, und das muß um jeden Preis verhindert werden. Der<lb/> jetzige Krieg wäre vielleicht auf Jahre hinausgeſchoben worden — in<lb/> Folge der erbärmlichen Organiſation der ruſſiſchen Armee —, wenn<lb/> die Türkei nicht in der „<hi rendition="#g">Karte Midhat</hi>‟ ſich eine Verfaſſung ge-<lb/> ſchaffen hätte, die durch Feſtellung des <hi rendition="#g">Prinzips</hi> der <hi rendition="#g">Gleichbe-<lb/> rechtigung</hi> aller Nationalitäten und Religionsbekenntniſſe dem „kranken<lb/> Mann‟ das richtige Heilmittel verſchrieb. Aber er <hi rendition="#g">ſollte</hi> nicht ge-<lb/> ſunden, er ſollte kränker werden oder ſterben, der „kranke Mann‟ —<lb/><hi rendition="#g">deshalb</hi> der Krieg.</p><lb/> <p>„Aber dieſe Verfaſſung war nur durch die Noth erpreßt, ſie iſt<lb/> nur ein werthloſes Stück Papier!‟ — Gemach. Wer nennt mir eine<lb/> europäiſche Verfaſſung, die <hi rendition="#g">nicht</hi> durch die Noth erpreßt wäre? Von<lb/> der engliſchen angefangen, bis herunter zu den deutſchen Nachdrucken,<lb/> die ſämmtlich auf die „tollen Jahre‟ der <hi rendition="#g">Juli-</hi> und <hi rendition="#g">Februarrevo-<lb/> lution</hi> zurückzuführen ſind? Und gerade die <hi rendition="#g">Noth</hi> würde in der<lb/> Türkei auch dafür geſorgt haben, daß die Verfaſſung <hi rendition="#g">nicht</hi> „ein Stück-<lb/> chen Papier‟ blieb. —</p><lb/> <p>Nun iſt’s anders. Wird Friede geſchloſſen, ſo wird’s ein <hi rendition="#g">fauler<lb/> Friede,</hi> der die chriſtlichen Provinzen der Türkei unter die Zucht-<lb/> ruthe der europäiſchen Diplomatie bringt. Wird der Krieg fortgeſetzt,<lb/> ſo werden ſie derart verwüſtet und erſchöpft, daß auf Jahrzehnte hin-<lb/> aus überhaupt an keine Reformen zu denken iſt. Schon die <hi rendition="#g">bisherigen</hi><lb/> Verwüſtungen werden Jahrzehnte lang zu ſpüren ſein.</p><lb/> <p>Jn keinem Fall iſt <hi rendition="#g">jetzt</hi> die <hi rendition="#g">Löſung</hi> der orientaliſchen Frage zu<lb/> erwarten. Der <hi rendition="#g">Friede</hi> kann nur ein <hi rendition="#g">Waffenſtillſtand</hi> ſein, die<lb/><hi rendition="#g">Vertagung</hi> der Frage auf gelegenere Zeiten. Die Fortſetzung des<lb/> Kriegs kann günſtigſten Falls zu einem Compromiß nach den Wünſchen<lb/> der <hi rendition="#g">engliſchen</hi> Staatsmänner führen, und was dieſe unter Freiheit<lb/> und Humanität verſtehen, das lehrt uns Jrland und Jndien.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Gelöſt</hi> wird die orientaliſche Frage erſt werden, wenn in den<lb/> politiſchen <hi rendition="#g">Centren</hi> Europas, oder richtiger in den Centren des poli-<lb/> tiſchen <hi rendition="#g">Lebens</hi> von Europa: in London, Paris, Berlin, Wien das<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [45/0049]
und ſeine chriſtlichen Unterthanen und Brüder mit ein Bischen
heidniſch-türkiſcher Freiheit beſchenken. Doch das paßt nicht ins Knuten-
ſyſtem. Reformen daheim? Wer ſie fordert, wird nach Sibi-
rien geſchickt. Die „Reformen‟, die „Freiheit‟ ſind, gleich der „Hu-
manität‟ und anderen ähnlichen Waaren, bloß Exportartikel für
den auswärtigen Markt.
Die Türkei ſoll „reformiren‟! Aber ſo wie Rußland es will: ſie
ſoll ſich zu Tod reformiren. Alſo bei Leib keine durchgreifenden, die
Staatsſchäden gründlich beſeitigenden Reformen! Sie würden ja die
Türkei ſtärken, und das muß um jeden Preis verhindert werden. Der
jetzige Krieg wäre vielleicht auf Jahre hinausgeſchoben worden — in
Folge der erbärmlichen Organiſation der ruſſiſchen Armee —, wenn
die Türkei nicht in der „Karte Midhat‟ ſich eine Verfaſſung ge-
ſchaffen hätte, die durch Feſtellung des Prinzips der Gleichbe-
rechtigung aller Nationalitäten und Religionsbekenntniſſe dem „kranken
Mann‟ das richtige Heilmittel verſchrieb. Aber er ſollte nicht ge-
ſunden, er ſollte kränker werden oder ſterben, der „kranke Mann‟ —
deshalb der Krieg.
„Aber dieſe Verfaſſung war nur durch die Noth erpreßt, ſie iſt
nur ein werthloſes Stück Papier!‟ — Gemach. Wer nennt mir eine
europäiſche Verfaſſung, die nicht durch die Noth erpreßt wäre? Von
der engliſchen angefangen, bis herunter zu den deutſchen Nachdrucken,
die ſämmtlich auf die „tollen Jahre‟ der Juli- und Februarrevo-
lution zurückzuführen ſind? Und gerade die Noth würde in der
Türkei auch dafür geſorgt haben, daß die Verfaſſung nicht „ein Stück-
chen Papier‟ blieb. —
Nun iſt’s anders. Wird Friede geſchloſſen, ſo wird’s ein fauler
Friede, der die chriſtlichen Provinzen der Türkei unter die Zucht-
ruthe der europäiſchen Diplomatie bringt. Wird der Krieg fortgeſetzt,
ſo werden ſie derart verwüſtet und erſchöpft, daß auf Jahrzehnte hin-
aus überhaupt an keine Reformen zu denken iſt. Schon die bisherigen
Verwüſtungen werden Jahrzehnte lang zu ſpüren ſein.
Jn keinem Fall iſt jetzt die Löſung der orientaliſchen Frage zu
erwarten. Der Friede kann nur ein Waffenſtillſtand ſein, die
Vertagung der Frage auf gelegenere Zeiten. Die Fortſetzung des
Kriegs kann günſtigſten Falls zu einem Compromiß nach den Wünſchen
der engliſchen Staatsmänner führen, und was dieſe unter Freiheit
und Humanität verſtehen, das lehrt uns Jrland und Jndien.
Gelöſt wird die orientaliſche Frage erſt werden, wenn in den
politiſchen Centren Europas, oder richtiger in den Centren des poli-
tiſchen Lebens von Europa: in London, Paris, Berlin, Wien das
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