Wenn man sieht, wie ungeschickt die jungen Störche, nachdem sie auf dem Dachfirst einige Vorübungen gemacht, ihre ersten Flugversuche anstellen, wo Schnabel und Beine herunterhängen, der Hals aber in einer höchst unschönen Linie gekrümmt die wunderlichsten Bewegungen macht, um das in Gefahr geratene Gleichgewicht zu sichern, dann gewinnt man den Eindruck, als müsse solch notdürftiges Fliegen ganz ausserordentlich leicht sein, und man wird angeregt, sich auch ein Paar Flügel anzufertigen und das Fliegen zu ver- suchen. Gewahrt man dann, wie der junge Storch nach wenigen Tagen schon elegant zu fliegen versteht, so wird der Mut, es ihm gleich zu thun, nur noch grösser. Nicht lange währt es aber, so kreist dann der junge Storch vor Antritt der Reise nach dem Süden mit seinen Eltern im blauen Äther ohne Flügelschlag um die Wette. (Siehe Titelbild.) Das heisst doch wohl, dass hier die richtige Flügelform den Ausschlag geben muss, und wenn diese einmal vorhanden ist, alles übrige sich von selbst findet.
Erwägt man ferner, dass die meisten Vögel nicht not- dürftig, sondern verschwenderisch mit der Flugfähigkeit aus- gestattet sind, so muss um so mehr die Einsicht Platz greifen, dass auch das künstliche Fliegen vom Menschen bewirkt werden kann, wenn es nur richtig angestellt wird, wozu aber besonders die Anwendung einer richtigen Flügelform gehört.
Dass aber der Vogel oft wirklichen Überschuss an Fliege- kraft besitzt, erkennt man daran, dass die Raubvögel recht ansehnliche Beute noch zu tragen vermögen. Die vom Habicht getragene Taube wiegt fast halb so viel, wie der Habicht selbst und trägt nicht etwa mit zur Hebung bei; denn der Habicht drückt der Taube mit seinen Fängen die Flügel zusammen. Man merkt dann allerdings dem Habicht die Anstrengung sehr an; er vermag jedoch trotzdem noch weit mit der Taube zu fliegen und würde dies sicher noch besser können, wenn die Taube nicht beständig, von Todesangst getrieben, verzweifelte Anstrengungen machte, sich zu be- freien, und wenn der Habicht mit der unter ihm hängenden
Wenn man sieht, wie ungeschickt die jungen Störche, nachdem sie auf dem Dachfirst einige Vorübungen gemacht, ihre ersten Flugversuche anstellen, wo Schnabel und Beine herunterhängen, der Hals aber in einer höchst unschönen Linie gekrümmt die wunderlichsten Bewegungen macht, um das in Gefahr geratene Gleichgewicht zu sichern, dann gewinnt man den Eindruck, als müsse solch notdürftiges Fliegen ganz auſserordentlich leicht sein, und man wird angeregt, sich auch ein Paar Flügel anzufertigen und das Fliegen zu ver- suchen. Gewahrt man dann, wie der junge Storch nach wenigen Tagen schon elegant zu fliegen versteht, so wird der Mut, es ihm gleich zu thun, nur noch gröſser. Nicht lange währt es aber, so kreist dann der junge Storch vor Antritt der Reise nach dem Süden mit seinen Eltern im blauen Äther ohne Flügelschlag um die Wette. (Siehe Titelbild.) Das heiſst doch wohl, daſs hier die richtige Flügelform den Ausschlag geben muſs, und wenn diese einmal vorhanden ist, alles übrige sich von selbst findet.
Erwägt man ferner, daſs die meisten Vögel nicht not- dürftig, sondern verschwenderisch mit der Flugfähigkeit aus- gestattet sind, so muſs um so mehr die Einsicht Platz greifen, daſs auch das künstliche Fliegen vom Menschen bewirkt werden kann, wenn es nur richtig angestellt wird, wozu aber besonders die Anwendung einer richtigen Flügelform gehört.
Daſs aber der Vogel oft wirklichen Überschuſs an Fliege- kraft besitzt, erkennt man daran, daſs die Raubvögel recht ansehnliche Beute noch zu tragen vermögen. Die vom Habicht getragene Taube wiegt fast halb so viel, wie der Habicht selbst und trägt nicht etwa mit zur Hebung bei; denn der Habicht drückt der Taube mit seinen Fängen die Flügel zusammen. Man merkt dann allerdings dem Habicht die Anstrengung sehr an; er vermag jedoch trotzdem noch weit mit der Taube zu fliegen und würde dies sicher noch besser können, wenn die Taube nicht beständig, von Todesangst getrieben, verzweifelte Anstrengungen machte, sich zu be- freien, und wenn der Habicht mit der unter ihm hängenden
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0087"n="71"/><p>Wenn man sieht, wie ungeschickt die jungen Störche,<lb/>
nachdem sie auf dem Dachfirst einige Vorübungen gemacht,<lb/>
ihre ersten Flugversuche anstellen, wo Schnabel und Beine<lb/>
herunterhängen, der Hals aber in einer höchst unschönen<lb/>
Linie gekrümmt die wunderlichsten Bewegungen macht, um<lb/>
das in Gefahr geratene Gleichgewicht zu sichern, dann gewinnt<lb/>
man den Eindruck, als müsse solch notdürftiges Fliegen ganz<lb/>
auſserordentlich leicht sein, und man wird angeregt, sich<lb/>
auch ein Paar Flügel anzufertigen und das Fliegen zu ver-<lb/>
suchen. Gewahrt man dann, wie der junge Storch nach<lb/>
wenigen Tagen schon elegant zu fliegen versteht, so wird der<lb/>
Mut, es ihm gleich zu thun, nur noch gröſser. Nicht lange<lb/>
währt es aber, so kreist dann der junge Storch vor Antritt<lb/>
der Reise nach dem Süden mit seinen Eltern im blauen Äther<lb/>
ohne Flügelschlag um die Wette. (Siehe Titelbild.) Das heiſst<lb/>
doch wohl, daſs hier die richtige Flügelform den Ausschlag<lb/>
geben muſs, und wenn diese einmal vorhanden ist, alles übrige<lb/>
sich von selbst findet.</p><lb/><p>Erwägt man ferner, daſs die meisten Vögel nicht not-<lb/>
dürftig, sondern verschwenderisch mit der Flugfähigkeit aus-<lb/>
gestattet sind, so muſs um so mehr die Einsicht Platz greifen,<lb/>
daſs auch das künstliche Fliegen vom Menschen bewirkt<lb/>
werden kann, wenn es nur richtig angestellt wird, wozu aber<lb/>
besonders die Anwendung einer richtigen Flügelform gehört.</p><lb/><p>Daſs aber der Vogel oft wirklichen Überschuſs an Fliege-<lb/>
kraft besitzt, erkennt man daran, daſs die Raubvögel recht<lb/>
ansehnliche Beute noch zu tragen vermögen. Die vom Habicht<lb/>
getragene Taube wiegt fast halb so viel, wie der Habicht<lb/>
selbst und trägt nicht etwa mit zur Hebung bei; denn der<lb/>
Habicht drückt der Taube mit seinen Fängen die Flügel<lb/>
zusammen. Man merkt dann allerdings dem Habicht die<lb/>
Anstrengung sehr an; er vermag jedoch trotzdem noch weit<lb/>
mit der Taube zu fliegen und würde dies sicher noch besser<lb/>
können, wenn die Taube nicht beständig, von Todesangst<lb/>
getrieben, verzweifelte Anstrengungen machte, sich zu be-<lb/>
freien, und wenn der Habicht mit der unter ihm hängenden<lb/></p></div></body></text></TEI>
[71/0087]
Wenn man sieht, wie ungeschickt die jungen Störche,
nachdem sie auf dem Dachfirst einige Vorübungen gemacht,
ihre ersten Flugversuche anstellen, wo Schnabel und Beine
herunterhängen, der Hals aber in einer höchst unschönen
Linie gekrümmt die wunderlichsten Bewegungen macht, um
das in Gefahr geratene Gleichgewicht zu sichern, dann gewinnt
man den Eindruck, als müsse solch notdürftiges Fliegen ganz
auſserordentlich leicht sein, und man wird angeregt, sich
auch ein Paar Flügel anzufertigen und das Fliegen zu ver-
suchen. Gewahrt man dann, wie der junge Storch nach
wenigen Tagen schon elegant zu fliegen versteht, so wird der
Mut, es ihm gleich zu thun, nur noch gröſser. Nicht lange
währt es aber, so kreist dann der junge Storch vor Antritt
der Reise nach dem Süden mit seinen Eltern im blauen Äther
ohne Flügelschlag um die Wette. (Siehe Titelbild.) Das heiſst
doch wohl, daſs hier die richtige Flügelform den Ausschlag
geben muſs, und wenn diese einmal vorhanden ist, alles übrige
sich von selbst findet.
Erwägt man ferner, daſs die meisten Vögel nicht not-
dürftig, sondern verschwenderisch mit der Flugfähigkeit aus-
gestattet sind, so muſs um so mehr die Einsicht Platz greifen,
daſs auch das künstliche Fliegen vom Menschen bewirkt
werden kann, wenn es nur richtig angestellt wird, wozu aber
besonders die Anwendung einer richtigen Flügelform gehört.
Daſs aber der Vogel oft wirklichen Überschuſs an Fliege-
kraft besitzt, erkennt man daran, daſs die Raubvögel recht
ansehnliche Beute noch zu tragen vermögen. Die vom Habicht
getragene Taube wiegt fast halb so viel, wie der Habicht
selbst und trägt nicht etwa mit zur Hebung bei; denn der
Habicht drückt der Taube mit seinen Fängen die Flügel
zusammen. Man merkt dann allerdings dem Habicht die
Anstrengung sehr an; er vermag jedoch trotzdem noch weit
mit der Taube zu fliegen und würde dies sicher noch besser
können, wenn die Taube nicht beständig, von Todesangst
getrieben, verzweifelte Anstrengungen machte, sich zu be-
freien, und wenn der Habicht mit der unter ihm hängenden
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lilienthal, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik. Berlin, 1889, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lilienthal_vogelflug_1889/87>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.