Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

Bild:
<< vorherige Seite

(o)
über eine dunckele Sache wachend haben, den Träu-
men der Schlaffenden nicht ungleich: Denn, gleich-
wie diese ihren vornehmsten Grund in den Verrich-
tungen des vorigen Tages haben; so findet ein Ge-
lehrter dasjenige, worauf er seine Gedancken vornem-
lich zu richten gewohnet ist, allenthalben.

Jch fassete also den Entschluß, mich an alle diese
wachende Träumer nicht zu kehren; sondern zu versu-
chen, ob ich nicht durch eigenes Nachsinnen der Na-
tur hinter die Künste kommen, und die wahre Ursache
der wunderbaren Figuren auf meiner gefrornen Fen-
ster-Scheibe ergründen könte.

Die Mühe, so mich diese Untersuchung gekostet
hat, ist gewiß groß gewesen: Aber sie ist mir auch durch
die vortrefliche Entdeckung, die ich gemacht habe,
mehr als doppelt belohnet worden. Ein jeder, der mich
kennet, wird mir das Zeugniß geben, daß ich gar nicht
prahlhaft bin. Jch halte von mir mäßiglich, und habe
mich, ausser dem Nothfall, noch niemahlen selbst gelo-
bet. Jch will es auch jetzo noch nicht thun, in der festen
Hoffnung, daß Sie, mein Herr, meine Scharffsinnig-
keit erkennen werden, ohne daß ich nöthig habe, mit
Hindansetzung der mir angebohrnen Sittsamkeit, Jh-
nen die Wichtigkeit und Vortrefflichkeit der von mir
entdeckten neuen und nützlichen Wahrheiten anzu-
preisen. Die That mag vor mich reden: Und wofern sie
jemahlen etwas gehöret und gelesen haben, das mit
den tiefsinnigen Gedancken, die ich über meine gefror-
ne Fenster-Scheibe gehabt habe, nur einiger massen
in Vergleichung zu ziehen ist, so gebe ich Jhnen die
Freyheit, ins künfftige nichts von mir zu halten.

So bald demnach die Gesellschafft, die ich bey mir

ge-

(o)
uͤber eine dunckele Sache wachend haben, den Traͤu-
men der Schlaffenden nicht ungleich: Denn, gleich-
wie dieſe ihren vornehmſten Grund in den Verrich-
tungen des vorigen Tages haben; ſo findet ein Ge-
lehrter dasjenige, worauf er ſeine Gedancken vornem-
lich zu richten gewohnet iſt, allenthalben.

Jch faſſete alſo den Entſchluß, mich an alle dieſe
wachende Traͤumer nicht zu kehren; ſondern zu verſu-
chen, ob ich nicht durch eigenes Nachſinnen der Na-
tur hinter die Kuͤnſte kommen, und die wahre Urſache
der wunderbaren Figuren auf meiner gefrornen Fen-
ſter-Scheibe ergruͤnden koͤnte.

Die Muͤhe, ſo mich dieſe Unterſuchung gekoſtet
hat, iſt gewiß groß geweſen: Aber ſie iſt mir auch durch
die vortrefliche Entdeckung, die ich gemacht habe,
mehr als doppelt belohnet worden. Ein jeder, der mich
kennet, wird mir das Zeugniß geben, daß ich gar nicht
prahlhaft bin. Jch halte von mir maͤßiglich, und habe
mich, auſſer dem Nothfall, noch niemahlen ſelbſt gelo-
bet. Jch will es auch jetzo noch nicht thun, in der feſten
Hoffnung, daß Sie, mein Herr, meine Scharffſinnig-
keit erkennen werden, ohne daß ich noͤthig habe, mit
Hindanſetzung deꝛ mir angebohꝛnen Sittſamkeit, Jh-
nen die Wichtigkeit und Vortrefflichkeit der von mir
entdeckten neuen und nuͤtzlichen Wahrheiten anzu-
preiſen. Die That mag vor mich reden: Und wofern ſie
jemahlen etwas gehoͤret und geleſen haben, das mit
den tiefſinnigen Gedancken, die ich uͤber meine gefror-
ne Fenſter-Scheibe gehabt habe, nur einiger maſſen
in Vergleichung zu ziehen iſt, ſo gebe ich Jhnen die
Freyheit, ins kuͤnfftige nichts von mir zu halten.

So bald demnach die Geſellſchafft, die ich bey mir

ge-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0156" n="64"/><fw place="top" type="header">(<hi rendition="#aq">o</hi>)</fw><lb/>
u&#x0364;ber eine dunckele Sache wachend haben, den Tra&#x0364;u-<lb/>
men der Schlaffenden nicht ungleich: Denn, gleich-<lb/>
wie die&#x017F;e ihren vornehm&#x017F;ten Grund in den Verrich-<lb/>
tungen des vorigen Tages haben; &#x017F;o findet ein Ge-<lb/>
lehrter dasjenige, worauf er &#x017F;eine Gedancken vornem-<lb/>
lich zu richten gewohnet i&#x017F;t, allenthalben.</p><lb/>
          <p>Jch fa&#x017F;&#x017F;ete al&#x017F;o den Ent&#x017F;chluß, mich an alle die&#x017F;e<lb/>
wachende Tra&#x0364;umer nicht zu kehren; &#x017F;ondern zu ver&#x017F;u-<lb/>
chen, ob ich nicht durch eigenes Nach&#x017F;innen der Na-<lb/>
tur hinter die Ku&#x0364;n&#x017F;te kommen, und die wahre Ur&#x017F;ache<lb/>
der wunderbaren Figuren auf meiner gefrornen Fen-<lb/>
&#x017F;ter-Scheibe ergru&#x0364;nden ko&#x0364;nte.</p><lb/>
          <p>Die Mu&#x0364;he, &#x017F;o mich die&#x017F;e Unter&#x017F;uchung geko&#x017F;tet<lb/>
hat, i&#x017F;t gewiß groß gewe&#x017F;en: Aber &#x017F;ie i&#x017F;t mir auch durch<lb/>
die vortrefliche Entdeckung, die ich gemacht habe,<lb/>
mehr als doppelt belohnet worden. Ein jeder, der mich<lb/>
kennet, wird mir das Zeugniß geben, daß ich gar nicht<lb/>
prahlhaft bin. Jch halte von mir ma&#x0364;ßiglich, und habe<lb/>
mich, au&#x017F;&#x017F;er dem Nothfall, noch niemahlen &#x017F;elb&#x017F;t gelo-<lb/>
bet. Jch will es auch jetzo noch nicht thun, in der fe&#x017F;ten<lb/>
Hoffnung, daß Sie, mein Herr, meine Scharff&#x017F;innig-<lb/>
keit erkennen werden, ohne daß ich no&#x0364;thig habe, mit<lb/>
Hindan&#x017F;etzung de&#xA75B; mir angeboh&#xA75B;nen Sitt&#x017F;amkeit, Jh-<lb/>
nen die Wichtigkeit und Vortrefflichkeit der von mir<lb/>
entdeckten neuen und nu&#x0364;tzlichen Wahrheiten anzu-<lb/>
prei&#x017F;en. Die That mag vor mich reden: Und wofern &#x017F;ie<lb/>
jemahlen etwas geho&#x0364;ret und gele&#x017F;en haben, das mit<lb/>
den tief&#x017F;innigen Gedancken, die ich u&#x0364;ber meine gefror-<lb/>
ne Fen&#x017F;ter-Scheibe gehabt habe, nur einiger ma&#x017F;&#x017F;en<lb/>
in Vergleichung zu ziehen i&#x017F;t, &#x017F;o gebe ich Jhnen die<lb/>
Freyheit, ins ku&#x0364;nfftige nichts von mir zu halten.</p><lb/>
          <p>So bald demnach die Ge&#x017F;ell&#x017F;chafft, die ich bey mir<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ge-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[64/0156] (o) uͤber eine dunckele Sache wachend haben, den Traͤu- men der Schlaffenden nicht ungleich: Denn, gleich- wie dieſe ihren vornehmſten Grund in den Verrich- tungen des vorigen Tages haben; ſo findet ein Ge- lehrter dasjenige, worauf er ſeine Gedancken vornem- lich zu richten gewohnet iſt, allenthalben. Jch faſſete alſo den Entſchluß, mich an alle dieſe wachende Traͤumer nicht zu kehren; ſondern zu verſu- chen, ob ich nicht durch eigenes Nachſinnen der Na- tur hinter die Kuͤnſte kommen, und die wahre Urſache der wunderbaren Figuren auf meiner gefrornen Fen- ſter-Scheibe ergruͤnden koͤnte. Die Muͤhe, ſo mich dieſe Unterſuchung gekoſtet hat, iſt gewiß groß geweſen: Aber ſie iſt mir auch durch die vortrefliche Entdeckung, die ich gemacht habe, mehr als doppelt belohnet worden. Ein jeder, der mich kennet, wird mir das Zeugniß geben, daß ich gar nicht prahlhaft bin. Jch halte von mir maͤßiglich, und habe mich, auſſer dem Nothfall, noch niemahlen ſelbſt gelo- bet. Jch will es auch jetzo noch nicht thun, in der feſten Hoffnung, daß Sie, mein Herr, meine Scharffſinnig- keit erkennen werden, ohne daß ich noͤthig habe, mit Hindanſetzung deꝛ mir angebohꝛnen Sittſamkeit, Jh- nen die Wichtigkeit und Vortrefflichkeit der von mir entdeckten neuen und nuͤtzlichen Wahrheiten anzu- preiſen. Die That mag vor mich reden: Und wofern ſie jemahlen etwas gehoͤret und geleſen haben, das mit den tiefſinnigen Gedancken, die ich uͤber meine gefror- ne Fenſter-Scheibe gehabt habe, nur einiger maſſen in Vergleichung zu ziehen iſt, ſo gebe ich Jhnen die Freyheit, ins kuͤnfftige nichts von mir zu halten. So bald demnach die Geſellſchafft, die ich bey mir ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Die Verlagsangabe wurde ermittelt (vgl. http://op… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/156
Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/156>, abgerufen am 21.11.2024.