Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

Bild:
<< vorherige Seite

(o)
Wer da einsiehet, was diese Buchstaben sagen wollen,
der verstehet alle übrige Figuren. Jch getraue mir,
durch Hülffe der Cabbala, hinter den wahren Ver-
stand derselben zu kommen: Allein, dieses erfordert viel
Nachsinnen, und es ist hier der Ort nicht, viel davon
zu reden. Aber auch dieser fand kein Gehör; sondern
ein jeder meinte, seine Erklärung sey die beste, und
lachte die andern aus.

Auf solche Art zanckten sie sich eine geraume Zeit
mit einander, und ich dachte bey alle dem Geplau-
dere: Fecistis probe incertior sum multo quam
dudum.
Jn dieser Ungewißheit, sagte ich zu dem
Ritter Cockburn, der noch seinen Mund nicht aufge-
than hätte: Sie sehen, mein Herr, wie scheinbar ein je-
der dieser Herren seine Meinung vorträgt, und daß es
ihre Schuld nicht ist, wenn ich mir nicht einbilde, daß
ich einer hohen Offenbahrung gewürdiget worden.
Sagen sie mir, wie bin ich daran? Und wer hat, nach
ihrer Meynung, Recht? Keiner, war seine Antwort;
denn die Figuren auf ihrer Fenster-Scheibe sind zu-
fälliger Weise entstanden, und bedeuten nichts; hat
aber ja die Natur eine Absicht gehabt, so ist es keine
andere, als den verworrenen Zustand des Gestirnes
vieler Gelehrten abzubilden, die sich nicht schämen,
mit der grössesten Ernsthafftigkeit die elendesten Gril-
len vorzubringen. Dieser kurtze und nachdrückliche
Ausspruch endigte alle unsere Betrachtungen, und
ein jeder gieng hin, wo er hergekommen.

Als ich mich nun allein befand, wiederholete ich in
Gedancken alles, was geredet worden, und ob ich zwar
wenig Trost darinnen fand; so lernete ich doch so viel
daraus, daß die Gedancken, welche die Gelehrten

über

(o)
Wer da einſiehet, was dieſe Buchſtaben ſagen wollen,
der verſtehet alle uͤbrige Figuren. Jch getraue mir,
durch Huͤlffe der Cabbala, hinter den wahren Ver-
ſtand derſelben zu kommen: Allein, dieſes erfordert viel
Nachſinnen, und es iſt hier der Ort nicht, viel davon
zu reden. Aber auch dieſer fand kein Gehoͤr; ſondern
ein jeder meinte, ſeine Erklaͤrung ſey die beſte, und
lachte die andern aus.

Auf ſolche Art zanckten ſie ſich eine geraume Zeit
mit einander, und ich dachte bey alle dem Geplau-
dere: Feciſtis probé incertior ſum multó quam
dudum.
Jn dieſer Ungewißheit, ſagte ich zu dem
Ritter Cockburn, der noch ſeinen Mund nicht aufge-
than haͤtte: Sie ſehen, mein Herr, wie ſcheinbar ein je-
der dieſer Herren ſeine Meinung vortraͤgt, und daß es
ihre Schuld nicht iſt, wenn ich mir nicht einbilde, daß
ich einer hohen Offenbahrung gewuͤrdiget worden.
Sagen ſie mir, wie bin ich daran? Und wer hat, nach
ihrer Meynung, Recht? Keiner, war ſeine Antwort;
denn die Figuren auf ihrer Fenſter-Scheibe ſind zu-
faͤlliger Weiſe entſtanden, und bedeuten nichts; hat
aber ja die Natur eine Abſicht gehabt, ſo iſt es keine
andere, als den verworrenen Zuſtand des Geſtirnes
vieler Gelehrten abzubilden, die ſich nicht ſchaͤmen,
mit der groͤſſeſten Ernſthafftigkeit die elendeſten Gril-
len vorzubringen. Dieſer kurtze und nachdruͤckliche
Ausſpruch endigte alle unſere Betrachtungen, und
ein jeder gieng hin, wo er hergekommen.

Als ich mich nun allein befand, wiederholete ich in
Gedancken alles, was geredet woꝛden, und ob ich zwar
wenig Troſt darinnen fand; ſo lernete ich doch ſo viel
daraus, daß die Gedancken, welche die Gelehrten

uͤber
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0155" n="63"/><fw place="top" type="header">(<hi rendition="#aq">o</hi>)</fw><lb/>
Wer da ein&#x017F;iehet, was die&#x017F;e Buch&#x017F;taben &#x017F;agen wollen,<lb/>
der ver&#x017F;tehet alle u&#x0364;brige Figuren. Jch getraue mir,<lb/>
durch Hu&#x0364;lffe der Cabbala, hinter den wahren Ver-<lb/>
&#x017F;tand der&#x017F;elben zu kommen: Allein, die&#x017F;es erfordert viel<lb/>
Nach&#x017F;innen, und es i&#x017F;t hier der Ort nicht, viel davon<lb/>
zu reden. Aber auch die&#x017F;er fand kein Geho&#x0364;r; &#x017F;ondern<lb/>
ein jeder meinte, &#x017F;eine Erkla&#x0364;rung &#x017F;ey die be&#x017F;te, und<lb/>
lachte die andern aus.</p><lb/>
          <p>Auf &#x017F;olche Art zanckten &#x017F;ie &#x017F;ich eine geraume Zeit<lb/>
mit einander, und ich dachte bey alle dem Geplau-<lb/>
dere: <hi rendition="#aq">Feci&#x017F;tis probé incertior &#x017F;um multó quam<lb/>
dudum.</hi> Jn die&#x017F;er Ungewißheit, &#x017F;agte ich zu dem<lb/>
Ritter Cockburn, der noch &#x017F;einen Mund nicht aufge-<lb/>
than ha&#x0364;tte: Sie &#x017F;ehen, mein Herr, wie &#x017F;cheinbar ein je-<lb/>
der die&#x017F;er Herren &#x017F;eine Meinung vortra&#x0364;gt, und daß es<lb/>
ihre Schuld nicht i&#x017F;t, wenn ich mir nicht einbilde, daß<lb/>
ich einer hohen Offenbahrung gewu&#x0364;rdiget worden.<lb/>
Sagen &#x017F;ie mir, wie bin ich daran? Und wer hat, nach<lb/>
ihrer Meynung, Recht? Keiner, war &#x017F;eine Antwort;<lb/>
denn die Figuren auf ihrer Fen&#x017F;ter-Scheibe &#x017F;ind zu-<lb/>
fa&#x0364;lliger Wei&#x017F;e ent&#x017F;tanden, und bedeuten nichts; hat<lb/>
aber ja die Natur eine Ab&#x017F;icht gehabt, &#x017F;o i&#x017F;t es keine<lb/>
andere, als den verworrenen Zu&#x017F;tand des Ge&#x017F;tirnes<lb/>
vieler Gelehrten abzubilden, die &#x017F;ich nicht &#x017F;cha&#x0364;men,<lb/>
mit der gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e&#x017F;ten Ern&#x017F;thafftigkeit die elende&#x017F;ten Gril-<lb/>
len vorzubringen. Die&#x017F;er kurtze und nachdru&#x0364;ckliche<lb/>
Aus&#x017F;pruch endigte alle un&#x017F;ere Betrachtungen, und<lb/>
ein jeder gieng hin, wo er hergekommen.</p><lb/>
          <p>Als ich mich nun allein befand, wiederholete ich in<lb/>
Gedancken alles, was geredet wo&#xA75B;den, und ob ich zwar<lb/>
wenig Tro&#x017F;t darinnen fand; &#x017F;o lernete ich doch &#x017F;o viel<lb/>
daraus, daß die Gedancken, welche die Gelehrten<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">u&#x0364;ber</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[63/0155] (o) Wer da einſiehet, was dieſe Buchſtaben ſagen wollen, der verſtehet alle uͤbrige Figuren. Jch getraue mir, durch Huͤlffe der Cabbala, hinter den wahren Ver- ſtand derſelben zu kommen: Allein, dieſes erfordert viel Nachſinnen, und es iſt hier der Ort nicht, viel davon zu reden. Aber auch dieſer fand kein Gehoͤr; ſondern ein jeder meinte, ſeine Erklaͤrung ſey die beſte, und lachte die andern aus. Auf ſolche Art zanckten ſie ſich eine geraume Zeit mit einander, und ich dachte bey alle dem Geplau- dere: Feciſtis probé incertior ſum multó quam dudum. Jn dieſer Ungewißheit, ſagte ich zu dem Ritter Cockburn, der noch ſeinen Mund nicht aufge- than haͤtte: Sie ſehen, mein Herr, wie ſcheinbar ein je- der dieſer Herren ſeine Meinung vortraͤgt, und daß es ihre Schuld nicht iſt, wenn ich mir nicht einbilde, daß ich einer hohen Offenbahrung gewuͤrdiget worden. Sagen ſie mir, wie bin ich daran? Und wer hat, nach ihrer Meynung, Recht? Keiner, war ſeine Antwort; denn die Figuren auf ihrer Fenſter-Scheibe ſind zu- faͤlliger Weiſe entſtanden, und bedeuten nichts; hat aber ja die Natur eine Abſicht gehabt, ſo iſt es keine andere, als den verworrenen Zuſtand des Geſtirnes vieler Gelehrten abzubilden, die ſich nicht ſchaͤmen, mit der groͤſſeſten Ernſthafftigkeit die elendeſten Gril- len vorzubringen. Dieſer kurtze und nachdruͤckliche Ausſpruch endigte alle unſere Betrachtungen, und ein jeder gieng hin, wo er hergekommen. Als ich mich nun allein befand, wiederholete ich in Gedancken alles, was geredet woꝛden, und ob ich zwar wenig Troſt darinnen fand; ſo lernete ich doch ſo viel daraus, daß die Gedancken, welche die Gelehrten uͤber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Die Verlagsangabe wurde ermittelt (vgl. http://op… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/155
Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/155>, abgerufen am 21.11.2024.