Dieser Verdacht wird gehoben, wenn gleich die guten Scribenten sprechen wolten: Die Unge- lehrten verstünden die Schriften der Gelehrten nicht, und könnten also nicht davon urtheilen. Denn die- se Ausflucht würde sich auf nichts gründen, als auf den lächerlichen Wahn, daß man allemahl die Sache, von der man urtheilet, verstehen müsse. Jch bilde mir ein, daß ich diese Grille schon über- flüssig widerleget habe. Wir elende Scribenten urtheilen von vielen Sachen, die wir nicht verste- hen: der Pöbel kan die Kunst auch; und sind die guten Scribenten so geschickt nicht, so ist es ein Un- glück vor sie: Aber sie werden so gut seyn, und von der Fähigkeit anderer nicht nach ihrer eigenen urtheilen. Jch solte nicht meinen, daß die guten Scribenten mir einwerfen werden: Sie wüsten wohl, daß es Leute gäbe, die verwegen genug wä- ren von Sachen zu urtheilen, die sie nicht verste- hen: Allein es müste so nicht seyn: Denn dieses wäre ein verzweifelter Satz, wodurch die Gelehr- ten mit den geringsten und verächtlichsten Hand- wercks-Leuten in eine Classe würden gesetzet werden. Bey diesen muß niemand, als die Aeltesten einer Zunft von der Arbeit eines jungen Meisters urthei- len. Die Gelehrten wissen von einer solchen Ver- fassung nichts, und es ware ihnen auch in der That schimpflich, wenn sie sich Leuten gleich stellen wol- ten, die in ihren Augen so verächtlich sind.
Da nun ein jeder, er mag es verstehen oder nicht von den Schriften der Gelehrten zu urtheilen nicht nur geschickt, sondern auch befugt ist, so möch- te ich wohl wissen, was uns hindern solte, auf den
Bey-
(o)
Dieſer Verdacht wird gehoben, wenn gleich die guten Scribenten ſprechen wolten: Die Unge- lehrten verſtuͤnden die Schriften der Gelehrten nicht, und koͤnnten alſo nicht davon urtheilen. Denn die- ſe Ausflucht wuͤrde ſich auf nichts gruͤnden, als auf den laͤcherlichen Wahn, daß man allemahl die Sache, von der man urtheilet, verſtehen muͤſſe. Jch bilde mir ein, daß ich dieſe Grille ſchon uͤber- fluͤſſig widerleget habe. Wir elende Scribenten urtheilen von vielen Sachen, die wir nicht verſte- hen: der Poͤbel kan die Kunſt auch; und ſind die guten Scribenten ſo geſchickt nicht, ſo iſt es ein Un- gluͤck vor ſie: Aber ſie werden ſo gut ſeyn, und von der Faͤhigkeit anderer nicht nach ihrer eigenen urtheilen. Jch ſolte nicht meinen, daß die guten Scribenten mir einwerfen werden: Sie wuͤſten wohl, daß es Leute gaͤbe, die verwegen genug waͤ- ren von Sachen zu urtheilen, die ſie nicht verſte- hen: Allein es muͤſte ſo nicht ſeyn: Denn dieſes waͤre ein verzweifelter Satz, wodurch die Gelehr- ten mit den geringſten und veraͤchtlichſten Hand- wercks-Leuten in eine Claſſe wuͤrden geſetzet werden. Bey dieſen muß niemand, als die Aelteſten einer Zunft von der Arbeit eines jungen Meiſters urthei- len. Die Gelehrten wiſſen von einer ſolchen Ver- faſſung nichts, und es ware ihnen auch in der That ſchimpflich, wenn ſie ſich Leuten gleich ſtellen wol- ten, die in ihren Augen ſo veraͤchtlich ſind.
Da nun ein jeder, er mag es verſtehen oder nicht von den Schriften der Gelehrten zu urtheilen nicht nur geſchickt, ſondern auch befugt iſt, ſo moͤch- te ich wohl wiſſen, was uns hindern ſolte, auf den
Bey-
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(o)
Dieſer Verdacht wird gehoben, wenn gleich
die guten Scribenten ſprechen wolten: Die Unge-
lehrten verſtuͤnden die Schriften der Gelehrten nicht,
und koͤnnten alſo nicht davon urtheilen. Denn die-
ſe Ausflucht wuͤrde ſich auf nichts gruͤnden, als auf
den laͤcherlichen Wahn, daß man allemahl die
Sache, von der man urtheilet, verſtehen muͤſſe.
Jch bilde mir ein, daß ich dieſe Grille ſchon uͤber-
fluͤſſig widerleget habe. Wir elende Scribenten
urtheilen von vielen Sachen, die wir nicht verſte-
hen: der Poͤbel kan die Kunſt auch; und ſind die
guten Scribenten ſo geſchickt nicht, ſo iſt es ein Un-
gluͤck vor ſie: Aber ſie werden ſo gut ſeyn, und
von der Faͤhigkeit anderer nicht nach ihrer eigenen
urtheilen. Jch ſolte nicht meinen, daß die guten
Scribenten mir einwerfen werden: Sie wuͤſten
wohl, daß es Leute gaͤbe, die verwegen genug waͤ-
ren von Sachen zu urtheilen, die ſie nicht verſte-
hen: Allein es muͤſte ſo nicht ſeyn: Denn dieſes
waͤre ein verzweifelter Satz, wodurch die Gelehr-
ten mit den geringſten und veraͤchtlichſten Hand-
wercks-Leuten in eine Claſſe wuͤrden geſetzet werden.
Bey dieſen muß niemand, als die Aelteſten einer
Zunft von der Arbeit eines jungen Meiſters urthei-
len. Die Gelehrten wiſſen von einer ſolchen Ver-
faſſung nichts, und es ware ihnen auch in der That
ſchimpflich, wenn ſie ſich Leuten gleich ſtellen wol-
ten, die in ihren Augen ſo veraͤchtlich ſind.
Da nun ein jeder, er mag es verſtehen oder nicht
von den Schriften der Gelehrten zu urtheilen
nicht nur geſchickt, ſondern auch befugt iſt, ſo moͤch-
te ich wohl wiſſen, was uns hindern ſolte, auf den
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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 526. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/618>, abgerufen am 22.11.2024.
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