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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

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(o)
die Alten nicht eben die Neigungen gehabt, die wir ha-
ben: Sie legten ihnen darum nicht eine allen mensch-
lichen Witz übersteigende Vollkommenheit bey, die
in folgenden Zeiten, ich weiß nicht durch was vor ei-
nen gewaltsamen Zufall, verlohren gegangen. Und
hätten sie es gethan, so hätten sie, wie der Hr. Prof.
Manzel, unrichtig geschlossen.

Es ist nicht schwer zu begreifen, daß der erste
Mensch nebst seiner Gehülfin, einen Augenblick nach
feiner Erschafung, nicht so lasterhaft seyn können als
wir. Er suchte, wie andere Thiere seine Nahrung,
und nahm vorlieb mit dem, so ihm zuerst vorkam. Er
hatte noch nichts geschmecket, das seinen Gaumen ge-
kützelt, und ihn verleiten können, lecker zu werden. Er
war also mäßig, und zu frieden, wenn er nur seinen
Hunger und Durst stillen konnte. Eine solche Crea-
tur brauchte wenig, und konnte also nicht verlangen,
viel zu besitzen, der Geitz plagte sie nicht, und, da sie
ausser einer Republick lebte, so war sie auch von
Hochmuth frey.

Allein, waren darum die ersten Menschen, ihrem
Wesen nach, vollkommner, als wir? Jch solte es nicht
meinen. Eine solche Vollkommenheit, eine solche
Unschuld finden wir noch bey vielen wilden Völckern,
und nehmen sie selbst an unsern Kindern, und an vielen
Land-Leuten wahr. Gleich wie nun aber die Tugend
und Unschuld dieser Leute sich auf ihre glückseelige
Unwissenheit gründet: So kan man auch die Un-
schuld der ersten Menschen aus eben diesem Grun-
de herleiten.

Die

(o)
die Alten nicht eben die Neigungen gehabt, die wir ha-
ben: Sie legten ihnen darum nicht eine allen menſch-
lichen Witz uͤberſteigende Vollkommenheit bey, die
in folgenden Zeiten, ich weiß nicht durch was vor ei-
nen gewaltſamen Zufall, verlohren gegangen. Und
haͤtten ſie es gethan, ſo haͤtten ſie, wie der Hr. Prof.
Manzel, unrichtig geſchloſſen.

Es iſt nicht ſchwer zu begreifen, daß der erſte
Menſch nebſt ſeiner Gehuͤlfin, einen Augenblick nach
feiner Erſchafung, nicht ſo laſterhaft ſeyn koͤnnen als
wir. Er ſuchte, wie andere Thiere ſeine Nahrung,
und nahm vorlieb mit dem, ſo ihm zuerſt vorkam. Er
hatte noch nichts geſchmecket, das ſeinen Gaumen ge-
kuͤtzelt, und ihn verleiten koͤnnen, lecker zu werden. Er
war alſo maͤßig, und zu frieden, wenn er nur ſeinen
Hunger und Durſt ſtillen konnte. Eine ſolche Crea-
tur brauchte wenig, und konnte alſo nicht verlangen,
viel zu beſitzen, der Geitz plagte ſie nicht, und, da ſie
auſſer einer Republick lebte, ſo war ſie auch von
Hochmuth frey.

Allein, waren darum die erſten Menſchen, ihrem
Weſen nach, vollkommner, als wir? Jch ſolte es nicht
meinen. Eine ſolche Vollkommenheit, eine ſolche
Unſchuld finden wir noch bey vielen wilden Voͤlckern,
und nehmen ſie ſelbſt an unſern Kindern, und an vielen
Land-Leuten wahr. Gleich wie nun aber die Tugend
und Unſchuld dieſer Leute ſich auf ihre gluͤckſeelige
Unwiſſenheit gruͤndet: So kan man auch die Un-
ſchuld der erſten Menſchen aus eben dieſem Grun-
de herleiten.

Die
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[655/0747] (o) die Alten nicht eben die Neigungen gehabt, die wir ha- ben: Sie legten ihnen darum nicht eine allen menſch- lichen Witz uͤberſteigende Vollkommenheit bey, die in folgenden Zeiten, ich weiß nicht durch was vor ei- nen gewaltſamen Zufall, verlohren gegangen. Und haͤtten ſie es gethan, ſo haͤtten ſie, wie der Hr. Prof. Manzel, unrichtig geſchloſſen. Es iſt nicht ſchwer zu begreifen, daß der erſte Menſch nebſt ſeiner Gehuͤlfin, einen Augenblick nach feiner Erſchafung, nicht ſo laſterhaft ſeyn koͤnnen als wir. Er ſuchte, wie andere Thiere ſeine Nahrung, und nahm vorlieb mit dem, ſo ihm zuerſt vorkam. Er hatte noch nichts geſchmecket, das ſeinen Gaumen ge- kuͤtzelt, und ihn verleiten koͤnnen, lecker zu werden. Er war alſo maͤßig, und zu frieden, wenn er nur ſeinen Hunger und Durſt ſtillen konnte. Eine ſolche Crea- tur brauchte wenig, und konnte alſo nicht verlangen, viel zu beſitzen, der Geitz plagte ſie nicht, und, da ſie auſſer einer Republick lebte, ſo war ſie auch von Hochmuth frey. Allein, waren darum die erſten Menſchen, ihrem Weſen nach, vollkommner, als wir? Jch ſolte es nicht meinen. Eine ſolche Vollkommenheit, eine ſolche Unſchuld finden wir noch bey vielen wilden Voͤlckern, und nehmen ſie ſelbſt an unſern Kindern, und an vielen Land-Leuten wahr. Gleich wie nun aber die Tugend und Unſchuld dieſer Leute ſich auf ihre gluͤckſeelige Unwiſſenheit gruͤndet: So kan man auch die Un- ſchuld der erſten Menſchen aus eben dieſem Grun- de herleiten. Die

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Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 655. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/747>, abgerufen am 22.11.2024.