dann dem Menschen diese Kräfte genommen habe. Der Mensch ist so erschafen worden, daß die Erkännt- niß seines wahren Nutzens seinen Begierden zum Ge- gengewichte gedienet. Jch bekenne dieses ist ein herr- licher Zustand: Aber ich begreife nicht, was den Men- schen aus diesem Gleichgewichte habe bringen kön- nen. Warum ist er nicht darinn geblieben? Er hat entweder nicht gewolt, oder nicht gekonnt. Jst es das erste, so muß er, weil man ohne einen Bewe- gungs-Grund nichts wollen oder nicht wollen kan, eine Neigung in sich gehabthaben, welche dieses Nicht wollen in ihm gewürcket; und dieses zeigt schon eine Ubermacht der Afecten an. Hat er nicht gekonnt, so ist es falsch, daß er die Kräfte gehabt hat, seine Be- gierden im Zaum zu halten. Spricht man: Er hat die Kräfte gehabt, aber auch zugleich die Freyheit, sich derselben zu bedienen, oder nicht zu bedienen; so sage ich, daß diese Freyheit allen Unterscheid zwischen uns und dem ersten Menschen aufhebet. Auch uns zwin- gen unsere Begierden nicht nothwendig zu Thorhei- ten. Wir haben noch das Vermögen, dieselbe ent- weder durch eine vernünftige Betrachtung unsers wahren Bestens, oder durch eine wiedrige Neigung in ihren Schrancken zu halten.
Uberdem ist man schuldig eine vernünftige Ursa- che zu geben, warum der erste Mensch, wenn er eine gleiche Freyheit gehabt hat, die ihm zu Zähmung seiner Begierden verliehene Kräfte zu gebrauchen, oder nicht zu gebrauchen, dieselbe lieber nicht gebrauchen, als ge- brauchen wollen. Ohne Ursache hat er dieses nicht gewollt. Er hat es also gewollt, weil es ihm besser ge- deucht, seinen Begierden zu folgen.
Dieses
(o)
dann dem Menſchen dieſe Kraͤfte genommen habe. Der Menſch iſt ſo erſchafen worden, daß die Erkaͤnnt- niß ſeines wahren Nutzens ſeinen Begierden zum Ge- gengewichte gedienet. Jch bekenne dieſes iſt ein herr- licher Zuſtand: Aber ich begreife nicht, was den Men- ſchen aus dieſem Gleichgewichte habe bringen koͤn- nen. Warum iſt er nicht darinn geblieben? Er hat entweder nicht gewolt, oder nicht gekonnt. Jſt es das erſte, ſo muß er, weil man ohne einen Bewe- gungs-Grund nichts wollen oder nicht wollen kan, eine Neigung in ſich gehabthaben, welche dieſes Nicht wollen in ihm gewuͤrcket; und dieſes zeigt ſchon eine Ubermacht der Afecten an. Hat er nicht gekonnt, ſo iſt es falſch, daß er die Kraͤfte gehabt hat, ſeine Be- gierden im Zaum zu halten. Spricht man: Er hat die Kraͤfte gehabt, aber auch zugleich die Freyheit, ſich derſelben zu bedienen, oder nicht zu bedienen; ſo ſage ich, daß dieſe Freyheit allen Unterſcheid zwiſchen uns und dem erſten Menſchen aufhebet. Auch uns zwin- gen unſere Begierden nicht nothwendig zu Thorhei- ten. Wir haben noch das Vermoͤgen, dieſelbe ent- weder durch eine vernuͤnftige Betrachtung unſers wahren Beſtens, oder durch eine wiedrige Neigung in ihren Schrancken zu halten.
Uberdem iſt man ſchuldig eine vernuͤnftige Urſa- che zu geben, warum der erſte Menſch, wenn er eine gleiche Freyheit gehabt hat, die ihm zu Zaͤhmung ſeiner Begierden verliehene Kraͤfte zu gebrauchen, oder nicht zu gebrauchen, dieſelbe lieber nicht gebrauchen, als ge- brauchen wollen. Ohne Urſache hat er dieſes nicht gewollt. Er hat es alſo gewollt, weil es ihm beſſer ge- deucht, ſeinen Begierden zu folgen.
Dieſes
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(o)
dann dem Menſchen dieſe Kraͤfte genommen habe.
Der Menſch iſt ſo erſchafen worden, daß die Erkaͤnnt-
niß ſeines wahren Nutzens ſeinen Begierden zum Ge-
gengewichte gedienet. Jch bekenne dieſes iſt ein herr-
licher Zuſtand: Aber ich begreife nicht, was den Men-
ſchen aus dieſem Gleichgewichte habe bringen koͤn-
nen. Warum iſt er nicht darinn geblieben? Er hat
entweder nicht gewolt, oder nicht gekonnt. Jſt es
das erſte, ſo muß er, weil man ohne einen Bewe-
gungs-Grund nichts wollen oder nicht wollen kan,
eine Neigung in ſich gehabthaben, welche dieſes Nicht
wollen in ihm gewuͤrcket; und dieſes zeigt ſchon eine
Ubermacht der Afecten an. Hat er nicht gekonnt,
ſo iſt es falſch, daß er die Kraͤfte gehabt hat, ſeine Be-
gierden im Zaum zu halten. Spricht man: Er hat
die Kraͤfte gehabt, aber auch zugleich die Freyheit, ſich
derſelben zu bedienen, oder nicht zu bedienen; ſo ſage
ich, daß dieſe Freyheit allen Unterſcheid zwiſchen uns
und dem erſten Menſchen aufhebet. Auch uns zwin-
gen unſere Begierden nicht nothwendig zu Thorhei-
ten. Wir haben noch das Vermoͤgen, dieſelbe ent-
weder durch eine vernuͤnftige Betrachtung unſers
wahren Beſtens, oder durch eine wiedrige Neigung
in ihren Schrancken zu halten.
Uberdem iſt man ſchuldig eine vernuͤnftige Urſa-
che zu geben, warum der erſte Menſch, wenn er eine
gleiche Freyheit gehabt hat, die ihm zu Zaͤhmung ſeiner
Begierden verliehene Kraͤfte zu gebrauchen, oder nicht
zu gebrauchen, dieſelbe lieber nicht gebrauchen, als ge-
brauchen wollen. Ohne Urſache hat er dieſes nicht
gewollt. Er hat es alſo gewollt, weil es ihm beſſer ge-
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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 710. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/802>, abgerufen am 21.11.2024.
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