Dieses zeigt aber, daß seine Begierden stärcker gewesen, als die Erkänntniß seines wahren Nutzens. Folglich ist der erste Mensch nicht vollkommener ge- wesen, als wir. Er hat Neigungen gehabt, die seiner Erkänntniß entgegen gelaufen, und diese Neigungen sind so mächtig gewesen, daß sein Verstand, mit aller seiner Weißheit, dieselben nicht im Zaum halten kön- nen. Denn, wenn dieses nicht wahr ist, so würde er sich von ihnen nimmer haben überwältigen lassen. Eva hätte nicht fallen können, wenn der liebliche An- blick verbotener Frucht, und die süsse Vorstellung der Lust, welche sie sich aus dem Genuß dersel- ben versprach, ihren Willen nicht stärcker gerühret hätte, als das göttliche Verbot, und die Erkänntniß der Schädlichkeit dieser Frucht.
Man siehet demnach, daß der Mensch nicht ohne Afecten erschafen; man siehet, daß diese Afecten im- mer mit seinem Verstande im Kriege begrifen gewe- sen, und daß dieser in der alten Welt nicht mehr gesie- get habe, als ietzo. Hieraus folget nun, daß die Afec- ten und deren Uebermacht kein Zeichen unsers Falles, oder einer Veränderung unsers ersten Zustandes sind. Sie sind Eigenschaften unsers Wesens, und ohne sie würden wir nicht seyn, was wir seyn sollen. Ein Thier ohne Begierden will nichts und thut nichts, und ist al- so weder sich noch andern nütze. Jch weiß wohl, daß die, aus dem Wesen des Menschen so nothwendig fliessende, Afecten viel böses anrichten können: Aber wenn sie nicht da wären, so würde auch viel Gutes nachbleiben. Sie sind uns so nöthig, als den See- fahrenden der Wind, ob es gleich ausgemacht, daß derselbe ihnen oft sehr nachtheilig ist.
Jch
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Dieſes zeigt aber, daß ſeine Begierden ſtaͤrcker geweſen, als die Erkaͤnntniß ſeines wahren Nutzens. Folglich iſt der erſte Menſch nicht vollkommener ge- weſen, als wir. Er hat Neigungen gehabt, die ſeiner Erkaͤnntniß entgegen gelaufen, und dieſe Neigungen ſind ſo maͤchtig geweſen, daß ſein Verſtand, mit aller ſeiner Weißheit, dieſelben nicht im Zaum halten koͤn- nen. Denn, wenn dieſes nicht wahr iſt, ſo wuͤrde er ſich von ihnen nimmer haben uͤberwaͤltigen laſſen. Eva haͤtte nicht fallen koͤnnen, wenn der liebliche An- blick verbotener Frucht, und die ſuͤſſe Vorſtellung der Luſt, welche ſie ſich aus dem Genuß derſel- ben verſprach, ihren Willen nicht ſtaͤrcker geruͤhret haͤtte, als das goͤttliche Verbot, und die Erkaͤnntniß der Schaͤdlichkeit dieſer Frucht.
Man ſiehet demnach, daß der Menſch nicht ohne Afecten erſchafen; man ſiehet, daß dieſe Afecten im- mer mit ſeinem Verſtande im Kriege begrifen gewe- ſen, und daß dieſer in der alten Welt nicht mehr geſie- get habe, als ietzo. Hieraus folget nun, daß die Afec- ten und deren Uebermacht kein Zeichen unſers Falles, oder einer Veraͤnderung unſers erſten Zuſtandes ſind. Sie ſind Eigenſchaften unſers Weſens, und ohne ſie wuͤrden wir nicht ſeyn, was wir ſeyn ſollen. Ein Thier ohne Begierden will nichts und thut nichts, und iſt al- ſo weder ſich noch andern nuͤtze. Jch weiß wohl, daß die, aus dem Weſen des Menſchen ſo nothwendig flieſſende, Afecten viel boͤſes anrichten koͤnnen: Aber wenn ſie nicht da waͤren, ſo wuͤrde auch viel Gutes nachbleiben. Sie ſind uns ſo noͤthig, als den See- fahrenden der Wind, ob es gleich ausgemacht, daß derſelbe ihnen oft ſehr nachtheilig iſt.
Jch
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Dieſes zeigt aber, daß ſeine Begierden ſtaͤrcker
geweſen, als die Erkaͤnntniß ſeines wahren Nutzens.
Folglich iſt der erſte Menſch nicht vollkommener ge-
weſen, als wir. Er hat Neigungen gehabt, die ſeiner
Erkaͤnntniß entgegen gelaufen, und dieſe Neigungen
ſind ſo maͤchtig geweſen, daß ſein Verſtand, mit aller
ſeiner Weißheit, dieſelben nicht im Zaum halten koͤn-
nen. Denn, wenn dieſes nicht wahr iſt, ſo wuͤrde er
ſich von ihnen nimmer haben uͤberwaͤltigen laſſen.
Eva haͤtte nicht fallen koͤnnen, wenn der liebliche An-
blick verbotener Frucht, und die ſuͤſſe Vorſtellung
der Luſt, welche ſie ſich aus dem Genuß derſel-
ben verſprach, ihren Willen nicht ſtaͤrcker geruͤhret
haͤtte, als das goͤttliche Verbot, und die Erkaͤnntniß
der Schaͤdlichkeit dieſer Frucht.
Man ſiehet demnach, daß der Menſch nicht ohne
Afecten erſchafen; man ſiehet, daß dieſe Afecten im-
mer mit ſeinem Verſtande im Kriege begrifen gewe-
ſen, und daß dieſer in der alten Welt nicht mehr geſie-
get habe, als ietzo. Hieraus folget nun, daß die Afec-
ten und deren Uebermacht kein Zeichen unſers Falles,
oder einer Veraͤnderung unſers erſten Zuſtandes ſind.
Sie ſind Eigenſchaften unſers Weſens, und ohne ſie
wuͤrden wir nicht ſeyn, was wir ſeyn ſollen. Ein Thier
ohne Begierden will nichts und thut nichts, und iſt al-
ſo weder ſich noch andern nuͤtze. Jch weiß wohl, daß
die, aus dem Weſen des Menſchen ſo nothwendig
flieſſende, Afecten viel boͤſes anrichten koͤnnen: Aber
wenn ſie nicht da waͤren, ſo wuͤrde auch viel Gutes
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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 711. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/803>, abgerufen am 21.11.2024.
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