Hier begreife ich nicht, wie der Mensch, der alle Dinge so vollkommen gekannt hat, daß er das Nütz- liche von dem Schädlichen genau unterscheiden kön- nen doch nur das Gute allein könne gekannt haben. Der Hr. Manzel kan dieses um so viel weniger sagen, weil er selbst (§. 48.) dem Menschen die Erkänntniß, und zwar eine vollkommene Erkänntniß des Guten und des Bösen (perfectam boni & mali cognitio- nem) ausdrücklich beyleget. Und wie hätte der Mensch auch sonst wissen können, daß ihm, wenn er dieses oder jenes thäte, etwas Böses wiederfahren würde? Er hat also auch das Böse gekannt. Aber woher? Durch einen natürlichen Trieb, als etwan die Thiere, oder durch die Erfahrung? Hat er durch einen natürlichen Trieb das Gute von dem Bösen un- terschieden, so fällt der reine Verstand, und die tiefe me- taphysische Wissenschaft weg, welche ihm der Hr. Prof. Manzel beylegt. Es würde auch daraus fol- gen, daß der Mensch ohne alles Nachdencken Gutes gethan habe, welches, wie der Hr. Manzel meinet, einer vollkommenen und vernünftigen Creaturunan- ständig ist. Hat aber der erste Mensch durch die Er- fahrung die Erkänntniß des Bösen erlanger, so darf man seine Weißheit nicht bewundern, weil man klärlich siehet, daß er, wie die Kinder und Narren, durch Schaden klug werden müssen. Er hat sich erst gebrannt, ehe er gewust, daß man dem Feuer nicht zu nahe kommen müsse, und alles so lange vor gut und unschädlich gehalten, biß er entweder die schädliche Würckung gewisser Dinge, und die übeln Folgen ge- wisser Thaten selbst gespüret, oder von andern, welche dieselbe erfahren, kennen gelernet.
Doch
(o)
Hier begreife ich nicht, wie der Menſch, der alle Dinge ſo vollkommen gekannt hat, daß er das Nuͤtz- liche von dem Schaͤdlichen genau unterſcheiden koͤn- nen doch nur das Gute allein koͤnne gekannt haben. Der Hr. Manzel kan dieſes um ſo viel weniger ſagen, weil er ſelbſt (§. 48.) dem Menſchen die Erkaͤnntniß, und zwar eine vollkommene Erkaͤnntniß des Guten und des Boͤſen (perfectam boni & mali cognitio- nem) ausdruͤcklich beyleget. Und wie haͤtte der Menſch auch ſonſt wiſſen koͤnnen, daß ihm, wenn er dieſes oder jenes thaͤte, etwas Boͤſes wiederfahren wuͤrde? Er hat alſo auch das Boͤſe gekannt. Aber woher? Durch einen natuͤrlichen Trieb, als etwan die Thiere, oder durch die Erfahrung? Hat er durch einen natuͤrlichen Trieb das Gute von dem Boͤſen un- terſchieden, ſo faͤllt der reine Verſtand, und die tiefe me- taphyſiſche Wiſſenſchaft weg, welche ihm der Hr. Prof. Manzel beylegt. Es wuͤrde auch daraus fol- gen, daß der Menſch ohne alles Nachdencken Gutes gethan habe, welches, wie der Hr. Manzel meinet, einer vollkommenen und vernuͤnftigen Creaturunan- ſtaͤndig iſt. Hat aber der erſte Menſch durch die Er- fahrung die Erkaͤnntniß des Boͤſen erlanger, ſo darf man ſeine Weißheit nicht bewundern, weil man klaͤrlich ſiehet, daß er, wie die Kinder und Narren, durch Schaden klug werden muͤſſen. Er hat ſich erſt gebrannt, ehe er gewuſt, daß man dem Feuer nicht zu nahe kommen muͤſſe, und alles ſo lange vor gut und unſchaͤdlich gehalten, biß er entweder die ſchaͤdliche Wuͤrckung gewiſſer Dinge, und die uͤbeln Folgen ge- wiſſer Thaten ſelbſt geſpuͤret, oder von andern, welche dieſelbe erfahren, kennen gelernet.
Doch
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(o)
Hier begreife ich nicht, wie der Menſch, der alle
Dinge ſo vollkommen gekannt hat, daß er das Nuͤtz-
liche von dem Schaͤdlichen genau unterſcheiden koͤn-
nen doch nur das Gute allein koͤnne gekannt haben.
Der Hr. Manzel kan dieſes um ſo viel weniger ſagen,
weil er ſelbſt (§. 48.) dem Menſchen die Erkaͤnntniß,
und zwar eine vollkommene Erkaͤnntniß des Guten
und des Boͤſen (perfectam boni & mali cognitio-
nem) ausdruͤcklich beyleget. Und wie haͤtte der
Menſch auch ſonſt wiſſen koͤnnen, daß ihm, wenn er
dieſes oder jenes thaͤte, etwas Boͤſes wiederfahren
wuͤrde? Er hat alſo auch das Boͤſe gekannt. Aber
woher? Durch einen natuͤrlichen Trieb, als etwan
die Thiere, oder durch die Erfahrung? Hat er durch
einen natuͤrlichen Trieb das Gute von dem Boͤſen un-
terſchieden, ſo faͤllt der reine Verſtand, und die tiefe me-
taphyſiſche Wiſſenſchaft weg, welche ihm der Hr.
Prof. Manzel beylegt. Es wuͤrde auch daraus fol-
gen, daß der Menſch ohne alles Nachdencken Gutes
gethan habe, welches, wie der Hr. Manzel meinet,
einer vollkommenen und vernuͤnftigen Creaturunan-
ſtaͤndig iſt. Hat aber der erſte Menſch durch die Er-
fahrung die Erkaͤnntniß des Boͤſen erlanger, ſo darf
man ſeine Weißheit nicht bewundern, weil man
klaͤrlich ſiehet, daß er, wie die Kinder und Narren,
durch Schaden klug werden muͤſſen. Er hat ſich
erſt gebrannt, ehe er gewuſt, daß man dem Feuer nicht
zu nahe kommen muͤſſe, und alles ſo lange vor gut und
unſchaͤdlich gehalten, biß er entweder die ſchaͤdliche
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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 734. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/826>, abgerufen am 21.11.2024.
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