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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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Einleitung.

Die durch das Völkerrecht umschlossene Staatengemeinschaft
ist zunächst Kulturgemeinschaft. Sie beruht als solche in letzter
Linie auf der Gemeinsamkeit der religiös-ethischen Überzeugungen,
die durch das christliche Bekenntnis nicht ohne weiteres gegeben
und an dieses nicht unbedingt gebunden ist. Sie setzt aber weiter
voraus, dass die Grenzlinie zwischen der Macht der Staatsgewalt
und der Freiheit des Einzelnen in Gesetzgebung, Rechtspflege und
Verwaltung gegen willkürliche Verrückung, sei es durch den Herr-
scher, sei es durch die Beherrschten, gesichert sei.

Die Staatengemeinschaft ist aber auch eine Interessenge-
meinschaft
. Der steigende Verkehr zwischen den Staaten weist
jeden von ihnen auf jeden andern hin, lässt ihn seine thatsächliche
Abhängigkeit von allen andern (seine "interdependance") erkennen
und zwingt ihn zur Verständigung mit allen übrigen. So entsteht
und entwickelt sich die Erkenntnis, dass es Lebensinteressen, Güter
der Menschen giebt, deren Träger nicht der einzelne Staat, sondern
eine Gesamtheit von Staaten ist.

In dieser Gemeinschaft der Kultur und der Interessen wurzelt
die Überzeugung, dass die Beziehungen der Staaten untereinander
durch verbindliche Normen geregelt werden. Diese Normen bilden
das Völkerrecht.

Durch die Selbstbindung des Staatenwillens entstanden, be-
deuten diese Normen zunächst die gegenseitige Anerkennung des
von ihnen umschriebenen Machtkreises jedes einzelnen Rechts-
genossen (die auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhenden
"Grundrechte" der Staaten). Darüber hinausgehend aber vereinigen
sie die Willensmacht der einzelnen Glieder der Rechtsgemein-
schaft
zur gemeinsamen Verfolgung gemeinsamer Interessen (die
"internationalen Verwaltungsgemeinschaften"). Jene bil-
den das ruhende, diese das beweglich fortschreitende Element des
Völkerrechts. --

Dem geschichtlichen Ursprung nach ist das Völkerrecht daher
das Recht der "christlich europäischen" Staaten. Aber es hat
sich ausgedehnt über die christlichen Staaten hinaus auf die Türkei,

Einleitung.

Die durch das Völkerrecht umschlossene Staatengemeinschaft
ist zunächst Kulturgemeinschaft. Sie beruht als solche in letzter
Linie auf der Gemeinsamkeit der religiös-ethischen Überzeugungen,
die durch das christliche Bekenntnis nicht ohne weiteres gegeben
und an dieses nicht unbedingt gebunden ist. Sie setzt aber weiter
voraus, daſs die Grenzlinie zwischen der Macht der Staatsgewalt
und der Freiheit des Einzelnen in Gesetzgebung, Rechtspflege und
Verwaltung gegen willkürliche Verrückung, sei es durch den Herr-
scher, sei es durch die Beherrschten, gesichert sei.

Die Staatengemeinschaft ist aber auch eine Interessenge-
meinschaft
. Der steigende Verkehr zwischen den Staaten weist
jeden von ihnen auf jeden andern hin, läſst ihn seine thatsächliche
Abhängigkeit von allen andern (seine „interdépendance“) erkennen
und zwingt ihn zur Verständigung mit allen übrigen. So entsteht
und entwickelt sich die Erkenntnis, daſs es Lebensinteressen, Güter
der Menschen giebt, deren Träger nicht der einzelne Staat, sondern
eine Gesamtheit von Staaten ist.

In dieser Gemeinschaft der Kultur und der Interessen wurzelt
die Überzeugung, daſs die Beziehungen der Staaten untereinander
durch verbindliche Normen geregelt werden. Diese Normen bilden
das Völkerrecht.

Durch die Selbstbindung des Staatenwillens entstanden, be-
deuten diese Normen zunächst die gegenseitige Anerkennung des
von ihnen umschriebenen Machtkreises jedes einzelnen Rechts-
genossen (die auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhenden
Grundrechte“ der Staaten). Darüber hinausgehend aber vereinigen
sie die Willensmacht der einzelnen Glieder der Rechtsgemein-
schaft
zur gemeinsamen Verfolgung gemeinsamer Interessen (die
internationalen Verwaltungsgemeinschaften“). Jene bil-
den das ruhende, diese das beweglich fortschreitende Element des
Völkerrechts. —

Dem geschichtlichen Ursprung nach ist das Völkerrecht daher
das Recht der „christlich europäischen“ Staaten. Aber es hat
sich ausgedehnt über die christlichen Staaten hinaus auf die Türkei,

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[2/0024] Einleitung. Die durch das Völkerrecht umschlossene Staatengemeinschaft ist zunächst Kulturgemeinschaft. Sie beruht als solche in letzter Linie auf der Gemeinsamkeit der religiös-ethischen Überzeugungen, die durch das christliche Bekenntnis nicht ohne weiteres gegeben und an dieses nicht unbedingt gebunden ist. Sie setzt aber weiter voraus, daſs die Grenzlinie zwischen der Macht der Staatsgewalt und der Freiheit des Einzelnen in Gesetzgebung, Rechtspflege und Verwaltung gegen willkürliche Verrückung, sei es durch den Herr- scher, sei es durch die Beherrschten, gesichert sei. Die Staatengemeinschaft ist aber auch eine Interessenge- meinschaft. Der steigende Verkehr zwischen den Staaten weist jeden von ihnen auf jeden andern hin, läſst ihn seine thatsächliche Abhängigkeit von allen andern (seine „interdépendance“) erkennen und zwingt ihn zur Verständigung mit allen übrigen. So entsteht und entwickelt sich die Erkenntnis, daſs es Lebensinteressen, Güter der Menschen giebt, deren Träger nicht der einzelne Staat, sondern eine Gesamtheit von Staaten ist. In dieser Gemeinschaft der Kultur und der Interessen wurzelt die Überzeugung, daſs die Beziehungen der Staaten untereinander durch verbindliche Normen geregelt werden. Diese Normen bilden das Völkerrecht. Durch die Selbstbindung des Staatenwillens entstanden, be- deuten diese Normen zunächst die gegenseitige Anerkennung des von ihnen umschriebenen Machtkreises jedes einzelnen Rechts- genossen (die auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhenden „Grundrechte“ der Staaten). Darüber hinausgehend aber vereinigen sie die Willensmacht der einzelnen Glieder der Rechtsgemein- schaft zur gemeinsamen Verfolgung gemeinsamer Interessen (die „internationalen Verwaltungsgemeinschaften“). Jene bil- den das ruhende, diese das beweglich fortschreitende Element des Völkerrechts. — Dem geschichtlichen Ursprung nach ist das Völkerrecht daher das Recht der „christlich europäischen“ Staaten. Aber es hat sich ausgedehnt über die christlichen Staaten hinaus auf die Türkei,

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/24>, abgerufen am 21.11.2024.