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Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Flügeln getragen; die Rose-Marie spürte keine Erschöpfung und Johannes seinen wunden Fuß nicht mehr. Sie hielten sich an den Händen gefaßt, wie die Kinder, und so traten sie unter die ersten Bäume hinaus, die sich zum Riesenthore wölbten, durch das ein Strom von Licht und Glanz herein auf den dunklen Waldweg flutete und die niederhängenden, tropfenden Gezweige mit Rubinen, Smaragden und Diamanten überfunkelte. Und draußen, schöner noch, weit schöner lag die weite Welt wie aufgethan vor den Blicken der Beiden, deren Lippen ein leises, gemeinsames Ah! entschlüpfte. Von der Sonne beglänzt und wie in neugeborner Schöne, jung und frisch hervorgegangen aus der Hand des Schöpfers, die hehre Gotteswelt! und als wäre jetzt erst das Zeichen des Bundes aufgerichtet zwischen ihm und seinen Menschen, so strahlend siebenfarbig schwang sich der Bogen des Friedens von den westlichen zu den östlichen Bergen hinüber -- mitten innen aber, recht wie im Schooße der Ruhe und des Glückes gebettet, lag ihr heimathliches Dörfchen.

Siehst du den Weidenhof? fragte die Rose-Marie mit glänzenden Augen. Johannes sah ihn wohl, aber er glaubte zu träumen. Stieg nicht der schlichte, weiße Bau wie ein richtiges, goldenes Zauberschloß aus rosenrothem Dufte auf? Ueberrascht, tief aufathmend stand er neben seinem Weibe. Was ist das? fragte er.

Sie lachte glücklich auf, obgleich ihr scharfes Auge längst gesehen und erkannt hatte, was ihr zu jeder andern Zeit als ein großes Unglück erschienen wäre. Aecker, Felder, Wiesen, das ganze Gut war eine einzige Wasserfläche, in welcher sich die rothe Sonne spiegelte, während

Flügeln getragen; die Rose-Marie spürte keine Erschöpfung und Johannes seinen wunden Fuß nicht mehr. Sie hielten sich an den Händen gefaßt, wie die Kinder, und so traten sie unter die ersten Bäume hinaus, die sich zum Riesenthore wölbten, durch das ein Strom von Licht und Glanz herein auf den dunklen Waldweg flutete und die niederhängenden, tropfenden Gezweige mit Rubinen, Smaragden und Diamanten überfunkelte. Und draußen, schöner noch, weit schöner lag die weite Welt wie aufgethan vor den Blicken der Beiden, deren Lippen ein leises, gemeinsames Ah! entschlüpfte. Von der Sonne beglänzt und wie in neugeborner Schöne, jung und frisch hervorgegangen aus der Hand des Schöpfers, die hehre Gotteswelt! und als wäre jetzt erst das Zeichen des Bundes aufgerichtet zwischen ihm und seinen Menschen, so strahlend siebenfarbig schwang sich der Bogen des Friedens von den westlichen zu den östlichen Bergen hinüber — mitten innen aber, recht wie im Schooße der Ruhe und des Glückes gebettet, lag ihr heimathliches Dörfchen.

Siehst du den Weidenhof? fragte die Rose-Marie mit glänzenden Augen. Johannes sah ihn wohl, aber er glaubte zu träumen. Stieg nicht der schlichte, weiße Bau wie ein richtiges, goldenes Zauberschloß aus rosenrothem Dufte auf? Ueberrascht, tief aufathmend stand er neben seinem Weibe. Was ist das? fragte er.

Sie lachte glücklich auf, obgleich ihr scharfes Auge längst gesehen und erkannt hatte, was ihr zu jeder andern Zeit als ein großes Unglück erschienen wäre. Aecker, Felder, Wiesen, das ganze Gut war eine einzige Wasserfläche, in welcher sich die rothe Sonne spiegelte, während

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[0054] Flügeln getragen; die Rose-Marie spürte keine Erschöpfung und Johannes seinen wunden Fuß nicht mehr. Sie hielten sich an den Händen gefaßt, wie die Kinder, und so traten sie unter die ersten Bäume hinaus, die sich zum Riesenthore wölbten, durch das ein Strom von Licht und Glanz herein auf den dunklen Waldweg flutete und die niederhängenden, tropfenden Gezweige mit Rubinen, Smaragden und Diamanten überfunkelte. Und draußen, schöner noch, weit schöner lag die weite Welt wie aufgethan vor den Blicken der Beiden, deren Lippen ein leises, gemeinsames Ah! entschlüpfte. Von der Sonne beglänzt und wie in neugeborner Schöne, jung und frisch hervorgegangen aus der Hand des Schöpfers, die hehre Gotteswelt! und als wäre jetzt erst das Zeichen des Bundes aufgerichtet zwischen ihm und seinen Menschen, so strahlend siebenfarbig schwang sich der Bogen des Friedens von den westlichen zu den östlichen Bergen hinüber — mitten innen aber, recht wie im Schooße der Ruhe und des Glückes gebettet, lag ihr heimathliches Dörfchen. Siehst du den Weidenhof? fragte die Rose-Marie mit glänzenden Augen. Johannes sah ihn wohl, aber er glaubte zu träumen. Stieg nicht der schlichte, weiße Bau wie ein richtiges, goldenes Zauberschloß aus rosenrothem Dufte auf? Ueberrascht, tief aufathmend stand er neben seinem Weibe. Was ist das? fragte er. Sie lachte glücklich auf, obgleich ihr scharfes Auge längst gesehen und erkannt hatte, was ihr zu jeder andern Zeit als ein großes Unglück erschienen wäre. Aecker, Felder, Wiesen, das ganze Gut war eine einzige Wasserfläche, in welcher sich die rothe Sonne spiegelte, während

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:36:23Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:36:23Z)

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Zitationshilfe: Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910/54>, abgerufen am 02.05.2024.