wollte, und er mußte sie verachten. Und was wollte sie denn? Wollte sie etwas von ihm? Wenn sie in Ge¬ danken vor ihm floh und angstvoll eine Zuflucht suchte; war er es nicht wieder, zu dem sie floh? Wenn sie in Gedanken eine Brust umschlang, daran sich auszu¬ weinen, war es nicht seine? Der Augenblick, der sie lehrte, sie wollte etwas Böses, hatte sie ja erst gelehrt, was sie wollte. Aennchen war im Zimmer; sie hatte das Kind nicht bemerkt. Alles Leben der Mutter war bei ihrem innern Kampfe; Aennchen sah der Mutter nicht an, was in ihr vorging. Sie zog die Mutter auf einen Stuhl und umschlang sie nach ihrer Weise und sah zu ihrem Antlitz auf. Die Mutter traf ihr Blick, als käm' er aus Apollonius' Augen. Aennchen sagte: "Weißt du Mutter? der Onkel Lonius" -- die Mutter sprang auf und stieß das Kind von sich, als wär' er's selbst. Sag' mir nichts mehr von -- sag' mir nichts mehr von ihm! sagte sie mit so zorniger Angst, daß das Mädchen weinend verstummte. Aenn¬ chen sah nicht die Angst, nur den Zorn in der Mutter Auffahren. Es war Zorn über sich selbst. Das Mäd¬ chen log, als sie dem Onkel von der Mutter Zorn über ihn erzählte. Es bedurfte der Erzählung nicht. Hatt' er nicht selbst die rothe Wange gesehn, mit der sie seiner und des Bruders Frage auswich; dasselbe Roth der zornigen Abneigung, mit dem sie den Heim¬ kehrenden empfangen?
wollte, und er mußte ſie verachten. Und was wollte ſie denn? Wollte ſie etwas von ihm? Wenn ſie in Ge¬ danken vor ihm floh und angſtvoll eine Zuflucht ſuchte; war er es nicht wieder, zu dem ſie floh? Wenn ſie in Gedanken eine Bruſt umſchlang, daran ſich auszu¬ weinen, war es nicht ſeine? Der Augenblick, der ſie lehrte, ſie wollte etwas Böſes, hatte ſie ja erſt gelehrt, was ſie wollte. Aennchen war im Zimmer; ſie hatte das Kind nicht bemerkt. Alles Leben der Mutter war bei ihrem innern Kampfe; Aennchen ſah der Mutter nicht an, was in ihr vorging. Sie zog die Mutter auf einen Stuhl und umſchlang ſie nach ihrer Weiſe und ſah zu ihrem Antlitz auf. Die Mutter traf ihr Blick, als käm' er aus Apollonius' Augen. Aennchen ſagte: „Weißt du Mutter? der Onkel Lonius“ — die Mutter ſprang auf und ſtieß das Kind von ſich, als wär' er's ſelbſt. Sag' mir nichts mehr von — ſag' mir nichts mehr von ihm! ſagte ſie mit ſo zorniger Angſt, daß das Mädchen weinend verſtummte. Aenn¬ chen ſah nicht die Angſt, nur den Zorn in der Mutter Auffahren. Es war Zorn über ſich ſelbſt. Das Mäd¬ chen log, als ſie dem Onkel von der Mutter Zorn über ihn erzählte. Es bedurfte der Erzählung nicht. Hatt' er nicht ſelbſt die rothe Wange geſehn, mit der ſie ſeiner und des Bruders Frage auswich; dasſelbe Roth der zornigen Abneigung, mit dem ſie den Heim¬ kehrenden empfangen?
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wollte, und er mußte ſie verachten. Und was wollte ſie
denn? Wollte ſie etwas von ihm? Wenn ſie in Ge¬
danken vor ihm floh und angſtvoll eine Zuflucht ſuchte;
war er es nicht wieder, zu dem ſie floh? Wenn ſie
in Gedanken eine Bruſt umſchlang, daran ſich auszu¬
weinen, war es nicht ſeine? Der Augenblick, der ſie
lehrte, ſie wollte etwas Böſes, hatte ſie ja erſt gelehrt,
was ſie wollte. Aennchen war im Zimmer; ſie hatte
das Kind nicht bemerkt. Alles Leben der Mutter war
bei ihrem innern Kampfe; Aennchen ſah der Mutter
nicht an, was in ihr vorging. Sie zog die Mutter
auf einen Stuhl und umſchlang ſie nach ihrer Weiſe
und ſah zu ihrem Antlitz auf. Die Mutter traf ihr
Blick, als käm' er aus Apollonius' Augen. Aennchen
ſagte: „Weißt du Mutter? der Onkel Lonius“ — die
Mutter ſprang auf und ſtieß das Kind von ſich, als
wär' er's ſelbſt. Sag' mir nichts mehr von — ſag'
mir nichts mehr von ihm! ſagte ſie mit ſo zorniger
Angſt, daß das Mädchen weinend verſtummte. Aenn¬
chen ſah nicht die Angſt, nur den Zorn in der Mutter
Auffahren. Es war Zorn über ſich ſelbſt. Das Mäd¬
chen log, als ſie dem Onkel von der Mutter Zorn
über ihn erzählte. Es bedurfte der Erzählung nicht.
Hatt' er nicht ſelbſt die rothe Wange geſehn, mit der
ſie ſeiner und des Bruders Frage auswich; dasſelbe
Roth der zornigen Abneigung, mit dem ſie den Heim¬
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/123>, abgerufen am 24.11.2024.
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