war nie so nachlässig gewesen. Sonst hatte sie keine Acht darauf gehabt; jetzt erst fiel ihr auf, er war, wußte er sie zugegen, nicht auf Augenblicke aus dem Zimmer gegangen, ohne zu schließen und den Schlüssel abzuziehn. Im obersten Fache rechts lagen Apollonius' Briefe; ihr Blick war sonst der Stelle ausgewichen. Jetzt öffnete sie das Pult und zog das Fach heraus. Ihre Hände zitterten, ihre ganze Gestalt bebte. Nicht aus Furcht, ihr Mann könnte sie dabei überraschen. Sie mußte wissen, wie es stand zwischen ihr, Apollo¬ nius und ihrem Mann; sie hätte diesen gefragt; sie hätte sich nicht selbst geholfen, konnte sie ihrem Manne trau'n. Sie bebte vor Erwartung, was sie finden wird. Ob sie etwas davon ahnt, was sie finden wird?
Es waren viel Briefe in dem Fach; und alle lagen offen und entfaltet darin. Und alle schienen nur Ab¬ drücke eines einzigen zu sein, so sehr glichen sie sich. Nur daß die Züge in den ersten weicher erschienen. Wie abgezirkelt stand die Anrede in jedem genau auf derselben Stelle; genau um eben soviel Zoll und Linien darunter der Beginn des Briefs. Der Abstand der schnurgeraden Zeilen von einander und vom Rande des Bogens war in allen der gleiche; nichts war aus¬ gestrichen; keine kleinste Unregelmäßigkeit verrieth die Stimmung des Schreibers oder eine Veränderung der¬ selben; ein Buchstabe genau wie der andere.
war nie ſo nachläſſig geweſen. Sonſt hatte ſie keine Acht darauf gehabt; jetzt erſt fiel ihr auf, er war, wußte er ſie zugegen, nicht auf Augenblicke aus dem Zimmer gegangen, ohne zu ſchließen und den Schlüſſel abzuziehn. Im oberſten Fache rechts lagen Apollonius' Briefe; ihr Blick war ſonſt der Stelle ausgewichen. Jetzt öffnete ſie das Pult und zog das Fach heraus. Ihre Hände zitterten, ihre ganze Geſtalt bebte. Nicht aus Furcht, ihr Mann könnte ſie dabei überraſchen. Sie mußte wiſſen, wie es ſtand zwiſchen ihr, Apollo¬ nius und ihrem Mann; ſie hätte dieſen gefragt; ſie hätte ſich nicht ſelbſt geholfen, konnte ſie ihrem Manne trau'n. Sie bebte vor Erwartung, was ſie finden wird. Ob ſie etwas davon ahnt, was ſie finden wird?
Es waren viel Briefe in dem Fach; und alle lagen offen und entfaltet darin. Und alle ſchienen nur Ab¬ drücke eines einzigen zu ſein, ſo ſehr glichen ſie ſich. Nur daß die Züge in den erſten weicher erſchienen. Wie abgezirkelt ſtand die Anrede in jedem genau auf derſelben Stelle; genau um eben ſoviel Zoll und Linien darunter der Beginn des Briefs. Der Abſtand der ſchnurgeraden Zeilen von einander und vom Rande des Bogens war in allen der gleiche; nichts war aus¬ geſtrichen; keine kleinſte Unregelmäßigkeit verrieth die Stimmung des Schreibers oder eine Veränderung der¬ ſelben; ein Buchſtabe genau wie der andere.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0132"n="123"/>
war nie ſo nachläſſig geweſen. Sonſt hatte ſie keine<lb/>
Acht darauf gehabt; jetzt erſt fiel ihr auf, er war,<lb/>
wußte er ſie zugegen, nicht auf Augenblicke aus dem<lb/>
Zimmer gegangen, ohne zu ſchließen und den Schlüſſel<lb/>
abzuziehn. Im oberſten Fache rechts lagen Apollonius'<lb/>
Briefe; ihr Blick war ſonſt der Stelle ausgewichen.<lb/>
Jetzt öffnete ſie das Pult und zog das Fach heraus.<lb/>
Ihre Hände zitterten, ihre ganze Geſtalt bebte. Nicht<lb/>
aus Furcht, ihr Mann könnte ſie dabei überraſchen.<lb/>
Sie mußte wiſſen, wie es ſtand zwiſchen ihr, Apollo¬<lb/>
nius und ihrem Mann; ſie hätte dieſen gefragt; ſie<lb/>
hätte ſich nicht ſelbſt geholfen, konnte ſie ihrem Manne<lb/>
trau'n. Sie bebte vor Erwartung, was ſie finden<lb/>
wird. Ob ſie etwas davon ahnt, was ſie finden<lb/>
wird?</p><lb/><p>Es waren viel Briefe in dem Fach; und alle lagen<lb/>
offen und entfaltet darin. Und alle ſchienen nur Ab¬<lb/>
drücke eines einzigen zu ſein, ſo ſehr glichen ſie ſich.<lb/>
Nur daß die Züge in den erſten weicher erſchienen.<lb/>
Wie abgezirkelt ſtand die Anrede in jedem genau auf<lb/>
derſelben Stelle; genau um eben ſoviel Zoll und Linien<lb/>
darunter der Beginn des Briefs. Der Abſtand der<lb/>ſchnurgeraden Zeilen von einander und vom Rande<lb/>
des Bogens war in allen der gleiche; nichts war aus¬<lb/>
geſtrichen; keine kleinſte Unregelmäßigkeit verrieth die<lb/>
Stimmung des Schreibers oder eine Veränderung der¬<lb/>ſelben; ein Buchſtabe genau wie der andere.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[123/0132]
war nie ſo nachläſſig geweſen. Sonſt hatte ſie keine
Acht darauf gehabt; jetzt erſt fiel ihr auf, er war,
wußte er ſie zugegen, nicht auf Augenblicke aus dem
Zimmer gegangen, ohne zu ſchließen und den Schlüſſel
abzuziehn. Im oberſten Fache rechts lagen Apollonius'
Briefe; ihr Blick war ſonſt der Stelle ausgewichen.
Jetzt öffnete ſie das Pult und zog das Fach heraus.
Ihre Hände zitterten, ihre ganze Geſtalt bebte. Nicht
aus Furcht, ihr Mann könnte ſie dabei überraſchen.
Sie mußte wiſſen, wie es ſtand zwiſchen ihr, Apollo¬
nius und ihrem Mann; ſie hätte dieſen gefragt; ſie
hätte ſich nicht ſelbſt geholfen, konnte ſie ihrem Manne
trau'n. Sie bebte vor Erwartung, was ſie finden
wird. Ob ſie etwas davon ahnt, was ſie finden
wird?
Es waren viel Briefe in dem Fach; und alle lagen
offen und entfaltet darin. Und alle ſchienen nur Ab¬
drücke eines einzigen zu ſein, ſo ſehr glichen ſie ſich.
Nur daß die Züge in den erſten weicher erſchienen.
Wie abgezirkelt ſtand die Anrede in jedem genau auf
derſelben Stelle; genau um eben ſoviel Zoll und Linien
darunter der Beginn des Briefs. Der Abſtand der
ſchnurgeraden Zeilen von einander und vom Rande
des Bogens war in allen der gleiche; nichts war aus¬
geſtrichen; keine kleinſte Unregelmäßigkeit verrieth die
Stimmung des Schreibers oder eine Veränderung der¬
ſelben; ein Buchſtabe genau wie der andere.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/132>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.