Sie berührte die Briefe alle, einen um den andern, eh' sie las. Mit jedem schlug neue glühende Röthe über ihre Wangen, als berührte sie Apollonius selbst, und sie zog die Hand unwillkührlich zurück. Jetzt fiel mit einem Briefe eine kleine metallene Kapsel in den Kasten zurück; die Kapsel fuhr auf, und heraus fiel eine kleine dürre Blume. Ein kleines blaues Glöckchen. Solch ein's, wie sie einst auf die Bank gelegt, damit er es finden sollte. Sie erschrack. Jene hatte Apollo¬ nius ja noch denselben Abend mit Spott und Hohn unter seinen Kameraden ausgeboten, und gefragt, was sie gäben, und dann unter dem Lachen Aller dem Bru¬ der feierlich zugeschlagen. Dieser brachte sie. ihr und erzählte ihr's während des Tanzens, und Apollonius sah zum Saalfenster herein, höhnend, wie der Bruder sagte. Jene hatte sie zerpflückt; das junge Volk war über die Trümmer hingetanzt. Die Blume in der Kapsel war eine andere. Es mußte in dem Briefe stehn, von wem sie war, oder wem Apollonius sie schickte.
Und doch war's dieselbe Blume. Sie las es. Wie ward ihr, als sie las, es war dieselbe! Thräne um Thräne stürzte auf das Papier und aus ihnen quoll ein rosiger Duft und verhüllte die engen Wände des Stübchens. In dem Duft regte sich ein Weh'n, wie von leisem Morgenwind im Lenz, wenn er die leichten Nebel flatternd ballt, und durch die Risse blauer
Sie berührte die Briefe alle, einen um den andern, eh' ſie las. Mit jedem ſchlug neue glühende Röthe über ihre Wangen, als berührte ſie Apollonius ſelbſt, und ſie zog die Hand unwillkührlich zurück. Jetzt fiel mit einem Briefe eine kleine metallene Kapſel in den Kaſten zurück; die Kapſel fuhr auf, und heraus fiel eine kleine dürre Blume. Ein kleines blaues Glöckchen. Solch ein's, wie ſie einſt auf die Bank gelegt, damit er es finden ſollte. Sie erſchrack. Jene hatte Apollo¬ nius ja noch denſelben Abend mit Spott und Hohn unter ſeinen Kameraden ausgeboten, und gefragt, was ſie gäben, und dann unter dem Lachen Aller dem Bru¬ der feierlich zugeſchlagen. Dieſer brachte ſie. ihr und erzählte ihr's während des Tanzens, und Apollonius ſah zum Saalfenſter herein, höhnend, wie der Bruder ſagte. Jene hatte ſie zerpflückt; das junge Volk war über die Trümmer hingetanzt. Die Blume in der Kapſel war eine andere. Es mußte in dem Briefe ſtehn, von wem ſie war, oder wem Apollonius ſie ſchickte.
Und doch war's dieſelbe Blume. Sie las es. Wie ward ihr, als ſie las, es war dieſelbe! Thräne um Thräne ſtürzte auf das Papier und aus ihnen quoll ein roſiger Duft und verhüllte die engen Wände des Stübchens. In dem Duft regte ſich ein Weh'n, wie von leiſem Morgenwind im Lenz, wenn er die leichten Nebel flatternd ballt, und durch die Riſſe blauer
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0133"n="124"/><p>Sie berührte die Briefe alle, einen um den andern,<lb/>
eh' ſie las. Mit jedem ſchlug neue glühende Röthe<lb/>
über ihre Wangen, als berührte ſie Apollonius ſelbſt,<lb/>
und ſie zog die Hand unwillkührlich zurück. Jetzt fiel<lb/>
mit einem Briefe eine kleine metallene Kapſel in den<lb/>
Kaſten zurück; die Kapſel fuhr auf, und heraus fiel<lb/>
eine kleine dürre Blume. Ein kleines blaues Glöckchen.<lb/>
Solch ein's, wie ſie einſt auf die Bank gelegt, damit<lb/>
er es finden ſollte. Sie erſchrack. Jene hatte Apollo¬<lb/>
nius ja noch denſelben Abend mit Spott und Hohn<lb/>
unter ſeinen Kameraden ausgeboten, und gefragt, was<lb/>ſie gäben, und dann unter dem Lachen Aller dem Bru¬<lb/>
der feierlich zugeſchlagen. Dieſer brachte ſie. ihr und<lb/>
erzählte ihr's während des Tanzens, und Apollonius<lb/>ſah zum Saalfenſter herein, höhnend, wie der Bruder<lb/>ſagte. Jene hatte ſie zerpflückt; das junge Volk war<lb/>
über die Trümmer hingetanzt. Die Blume in der<lb/>
Kapſel war eine andere. Es mußte in dem Briefe<lb/>ſtehn, von wem ſie war, oder wem Apollonius ſie<lb/>ſchickte.</p><lb/><p>Und doch war's dieſelbe Blume. Sie las es.<lb/>
Wie ward ihr, als ſie las, es war dieſelbe! Thräne<lb/>
um Thräne ſtürzte auf das Papier und aus ihnen<lb/>
quoll ein roſiger Duft und verhüllte die engen Wände<lb/>
des Stübchens. In dem Duft regte ſich ein Weh'n,<lb/>
wie von leiſem Morgenwind im Lenz, wenn er die<lb/>
leichten Nebel flatternd ballt, und durch die Riſſe blauer<lb/></p></div></body></text></TEI>
[124/0133]
Sie berührte die Briefe alle, einen um den andern,
eh' ſie las. Mit jedem ſchlug neue glühende Röthe
über ihre Wangen, als berührte ſie Apollonius ſelbſt,
und ſie zog die Hand unwillkührlich zurück. Jetzt fiel
mit einem Briefe eine kleine metallene Kapſel in den
Kaſten zurück; die Kapſel fuhr auf, und heraus fiel
eine kleine dürre Blume. Ein kleines blaues Glöckchen.
Solch ein's, wie ſie einſt auf die Bank gelegt, damit
er es finden ſollte. Sie erſchrack. Jene hatte Apollo¬
nius ja noch denſelben Abend mit Spott und Hohn
unter ſeinen Kameraden ausgeboten, und gefragt, was
ſie gäben, und dann unter dem Lachen Aller dem Bru¬
der feierlich zugeſchlagen. Dieſer brachte ſie. ihr und
erzählte ihr's während des Tanzens, und Apollonius
ſah zum Saalfenſter herein, höhnend, wie der Bruder
ſagte. Jene hatte ſie zerpflückt; das junge Volk war
über die Trümmer hingetanzt. Die Blume in der
Kapſel war eine andere. Es mußte in dem Briefe
ſtehn, von wem ſie war, oder wem Apollonius ſie
ſchickte.
Und doch war's dieſelbe Blume. Sie las es.
Wie ward ihr, als ſie las, es war dieſelbe! Thräne
um Thräne ſtürzte auf das Papier und aus ihnen
quoll ein roſiger Duft und verhüllte die engen Wände
des Stübchens. In dem Duft regte ſich ein Weh'n,
wie von leiſem Morgenwind im Lenz, wenn er die
leichten Nebel flatternd ballt, und durch die Riſſe blauer
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/133>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.