Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

vor einem fallenden Blatt zusammen, bald wünschte
er, das Haus stürzte über ihn und begrübe ihn. So
oft er den Weg durch den Gang zurücklegte, so oft
bäumte sich seine Seele im wildesten Trotz empor, so
oft sank sie in die hingegebenste Hülflosigkeit zurück.
Er war entschlossen, zu gehn -- und sie dem Geha߬
ten zu überlassen? Daß sie ihn höhnten? Sie hatten
ihn ja so weit gebracht, um ihn los zu werden; dann
war ihr einziger Wunsch erfüllt. Nein! er wollte
bleiben! er mußte bleiben! -- und dann faßten ihn
wieder die Gerichte -- denn der im blauen Rocke
hielt sein Wort -- und schlossen ihn mit Ketten fest,
und -- dann war's dasselbe. Sie hatten wieder ihren
Zweck erreicht. -- Dann bewegte Fritz Nettenmair
heftig die Arme vor sich hin, als rüttelte er schon an
den Gittern des Kerkerfensters und athmete so mühsam,
als erstickte ihn schon der Dunst der feuchten Wände.
Dann überfiel ihn in plötzlicher Abspannung das ganze
Bewußtsein seines grenzenlosen Elendes, der Jammer
gänzlicher Verlassenheit. Goldene Bilder stiegen auf;
die verlorene Seligkeit marterte ihn mehr, als die ge¬
wonnene Verdammniß. Da hüpfte er als schuldloses
Kind den Gang hin, dem entlang er jetzt die Ueber¬
last seines Elends schleppte; da waren Menschen, die
ihn liebten. Wie klang der Mutter Stimme, die ihn
rief, so süß! Und jetzt liebte ihn Niemand mehr. Die
fremden Menschen verachteten ihn; die ihn lieben soll¬

vor einem fallenden Blatt zuſammen, bald wünſchte
er, das Haus ſtürzte über ihn und begrübe ihn. So
oft er den Weg durch den Gang zurücklegte, ſo oft
bäumte ſich ſeine Seele im wildeſten Trotz empor, ſo
oft ſank ſie in die hingegebenſte Hülfloſigkeit zurück.
Er war entſchloſſen, zu gehn — und ſie dem Geha߬
ten zu überlaſſen? Daß ſie ihn höhnten? Sie hatten
ihn ja ſo weit gebracht, um ihn los zu werden; dann
war ihr einziger Wunſch erfüllt. Nein! er wollte
bleiben! er mußte bleiben! — und dann faßten ihn
wieder die Gerichte — denn der im blauen Rocke
hielt ſein Wort — und ſchloſſen ihn mit Ketten feſt,
und — dann war's daſſelbe. Sie hatten wieder ihren
Zweck erreicht. — Dann bewegte Fritz Nettenmair
heftig die Arme vor ſich hin, als rüttelte er ſchon an
den Gittern des Kerkerfenſters und athmete ſo mühſam,
als erſtickte ihn ſchon der Dunſt der feuchten Wände.
Dann überfiel ihn in plötzlicher Abſpannung das ganze
Bewußtſein ſeines grenzenloſen Elendes, der Jammer
gänzlicher Verlaſſenheit. Goldene Bilder ſtiegen auf;
die verlorene Seligkeit marterte ihn mehr, als die ge¬
wonnene Verdammniß. Da hüpfte er als ſchuldloſes
Kind den Gang hin, dem entlang er jetzt die Ueber¬
laſt ſeines Elends ſchleppte; da waren Menſchen, die
ihn liebten. Wie klang der Mutter Stimme, die ihn
rief, ſo ſüß! Und jetzt liebte ihn Niemand mehr. Die
fremden Menſchen verachteten ihn; die ihn lieben ſoll¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0255" n="246"/>
vor einem fallenden Blatt zu&#x017F;ammen, bald wün&#x017F;chte<lb/>
er, das Haus &#x017F;türzte über ihn und begrübe ihn. So<lb/>
oft er den Weg durch den Gang zurücklegte, &#x017F;o oft<lb/>
bäumte &#x017F;ich &#x017F;eine Seele im wilde&#x017F;ten Trotz empor, &#x017F;o<lb/>
oft &#x017F;ank &#x017F;ie in die hingegeben&#x017F;te Hülflo&#x017F;igkeit zurück.<lb/>
Er war ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, zu gehn &#x2014; und &#x017F;ie dem Geha߬<lb/>
ten zu überla&#x017F;&#x017F;en? Daß &#x017F;ie ihn höhnten? Sie hatten<lb/>
ihn ja &#x017F;o weit gebracht, um ihn los zu werden; dann<lb/>
war ihr einziger Wun&#x017F;ch erfüllt. Nein! er wollte<lb/>
bleiben! er mußte bleiben! &#x2014; und dann faßten ihn<lb/>
wieder die Gerichte &#x2014; denn der im blauen Rocke<lb/>
hielt &#x017F;ein Wort &#x2014; und &#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en ihn mit Ketten fe&#x017F;t,<lb/>
und &#x2014; dann war's da&#x017F;&#x017F;elbe. Sie hatten wieder ihren<lb/>
Zweck erreicht. &#x2014; Dann bewegte Fritz Nettenmair<lb/>
heftig die Arme vor &#x017F;ich hin, als rüttelte er &#x017F;chon an<lb/>
den Gittern des Kerkerfen&#x017F;ters und athmete &#x017F;o müh&#x017F;am,<lb/>
als er&#x017F;tickte ihn &#x017F;chon der Dun&#x017F;t der feuchten Wände.<lb/>
Dann überfiel ihn in plötzlicher Ab&#x017F;pannung das ganze<lb/>
Bewußt&#x017F;ein &#x017F;eines grenzenlo&#x017F;en Elendes, der Jammer<lb/>
gänzlicher Verla&#x017F;&#x017F;enheit. Goldene Bilder &#x017F;tiegen auf;<lb/>
die verlorene Seligkeit marterte ihn mehr, als die ge¬<lb/>
wonnene Verdammniß. Da hüpfte er als &#x017F;chuldlo&#x017F;es<lb/>
Kind den Gang hin, dem entlang er jetzt die Ueber¬<lb/>
la&#x017F;t &#x017F;eines Elends &#x017F;chleppte; da waren Men&#x017F;chen, die<lb/>
ihn liebten. Wie klang der Mutter Stimme, die ihn<lb/>
rief, &#x017F;o &#x017F;üß! Und jetzt liebte ihn Niemand mehr. Die<lb/>
fremden Men&#x017F;chen verachteten ihn; die ihn lieben &#x017F;oll¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[246/0255] vor einem fallenden Blatt zuſammen, bald wünſchte er, das Haus ſtürzte über ihn und begrübe ihn. So oft er den Weg durch den Gang zurücklegte, ſo oft bäumte ſich ſeine Seele im wildeſten Trotz empor, ſo oft ſank ſie in die hingegebenſte Hülfloſigkeit zurück. Er war entſchloſſen, zu gehn — und ſie dem Geha߬ ten zu überlaſſen? Daß ſie ihn höhnten? Sie hatten ihn ja ſo weit gebracht, um ihn los zu werden; dann war ihr einziger Wunſch erfüllt. Nein! er wollte bleiben! er mußte bleiben! — und dann faßten ihn wieder die Gerichte — denn der im blauen Rocke hielt ſein Wort — und ſchloſſen ihn mit Ketten feſt, und — dann war's daſſelbe. Sie hatten wieder ihren Zweck erreicht. — Dann bewegte Fritz Nettenmair heftig die Arme vor ſich hin, als rüttelte er ſchon an den Gittern des Kerkerfenſters und athmete ſo mühſam, als erſtickte ihn ſchon der Dunſt der feuchten Wände. Dann überfiel ihn in plötzlicher Abſpannung das ganze Bewußtſein ſeines grenzenloſen Elendes, der Jammer gänzlicher Verlaſſenheit. Goldene Bilder ſtiegen auf; die verlorene Seligkeit marterte ihn mehr, als die ge¬ wonnene Verdammniß. Da hüpfte er als ſchuldloſes Kind den Gang hin, dem entlang er jetzt die Ueber¬ laſt ſeines Elends ſchleppte; da waren Menſchen, die ihn liebten. Wie klang der Mutter Stimme, die ihn rief, ſo ſüß! Und jetzt liebte ihn Niemand mehr. Die fremden Menſchen verachteten ihn; die ihn lieben ſoll¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/255
Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/255>, abgerufen am 18.12.2024.