sen stand, dann sieht man, es war schlafendes Leben, was wie vertrocknete Leichen auf der Diele lag. Nun regt sich's und dehnt sich's und wird zur summenden Wolke und braust jubelnd hinein in den goldenen Strahl. Nicht der Vater allein, jedes Haus der Vaterstadt, jeder Hügel, jeder Garten darum, jeder Baum darin rief ihn. Der Bruder, die Schwester -- diesen Namen gab er Christianen -- riefen ihn. Er fühlte sich sicher, daß es nur die Schwester war, die ihn zu ihr zog. Doch sie rief ihn ja nicht. Sie trug einen Widerwillen gegen ihn, hatte ihm der Bruder geschrieben; einen Widerwillen, so stark, daß sechs Jahre lang der Bruder vergeblich gegen ihn gekämpft. Es war ihm, als müsse er schon deßwegen heim, damit er ihr zeigte, er ver¬ diene ihren Widerwillen nicht, er sei werth, ihr Bruder zu sein. Das schrieb er dem Bruder in dem Briefe, der seinen Gehorsam meldete und den Tag angab, an dem der Bruder ihn erwarten sollte. Er konnte ihn versichern, daß die Erinnerungen an ehemals ihn nicht quälen würden, daß die Sorge des Bruders unbegrün¬ det sei.
So war es gekommen, daß der Gedanke an sie keine von den alten Hoffnungen erweckte. Als er von der Höhe herabsah, fragte er sich: wird mir's gelingen, ihr Bruder zu werden, die mir jetzt eine Schwester ist?
Noch eine Weile stand er und sah hinab. Aber seine Haltung hatte sich verändert und sein Blick war
ſen ſtand, dann ſieht man, es war ſchlafendes Leben, was wie vertrocknete Leichen auf der Diele lag. Nun regt ſich's und dehnt ſich's und wird zur ſummenden Wolke und brauſt jubelnd hinein in den goldenen Strahl. Nicht der Vater allein, jedes Haus der Vaterſtadt, jeder Hügel, jeder Garten darum, jeder Baum darin rief ihn. Der Bruder, die Schweſter — dieſen Namen gab er Chriſtianen — riefen ihn. Er fühlte ſich ſicher, daß es nur die Schweſter war, die ihn zu ihr zog. Doch ſie rief ihn ja nicht. Sie trug einen Widerwillen gegen ihn, hatte ihm der Bruder geſchrieben; einen Widerwillen, ſo ſtark, daß ſechs Jahre lang der Bruder vergeblich gegen ihn gekämpft. Es war ihm, als müſſe er ſchon deßwegen heim, damit er ihr zeigte, er ver¬ diene ihren Widerwillen nicht, er ſei werth, ihr Bruder zu ſein. Das ſchrieb er dem Bruder in dem Briefe, der ſeinen Gehorſam meldete und den Tag angab, an dem der Bruder ihn erwarten ſollte. Er konnte ihn verſichern, daß die Erinnerungen an ehemals ihn nicht quälen würden, daß die Sorge des Bruders unbegrün¬ det ſei.
So war es gekommen, daß der Gedanke an ſie keine von den alten Hoffnungen erweckte. Als er von der Höhe herabſah, fragte er ſich: wird mir's gelingen, ihr Bruder zu werden, die mir jetzt eine Schweſter iſt?
Noch eine Weile ſtand er und ſah hinab. Aber ſeine Haltung hatte ſich verändert und ſein Blick war
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ſen ſtand, dann ſieht man, es war ſchlafendes Leben,
was wie vertrocknete Leichen auf der Diele lag. Nun
regt ſich's und dehnt ſich's und wird zur ſummenden
Wolke und brauſt jubelnd hinein in den goldenen Strahl.
Nicht der Vater allein, jedes Haus der Vaterſtadt,
jeder Hügel, jeder Garten darum, jeder Baum darin
rief ihn. Der Bruder, die Schweſter — dieſen Namen
gab er Chriſtianen — riefen ihn. Er fühlte ſich ſicher,
daß es nur die Schweſter war, die ihn zu ihr zog.
Doch ſie rief ihn ja nicht. Sie trug einen Widerwillen
gegen ihn, hatte ihm der Bruder geſchrieben; einen
Widerwillen, ſo ſtark, daß ſechs Jahre lang der Bruder
vergeblich gegen ihn gekämpft. Es war ihm, als müſſe
er ſchon deßwegen heim, damit er ihr zeigte, er ver¬
diene ihren Widerwillen nicht, er ſei werth, ihr Bruder
zu ſein. Das ſchrieb er dem Bruder in dem Briefe,
der ſeinen Gehorſam meldete und den Tag angab, an
dem der Bruder ihn erwarten ſollte. Er konnte ihn
verſichern, daß die Erinnerungen an ehemals ihn nicht
quälen würden, daß die Sorge des Bruders unbegrün¬
det ſei.
So war es gekommen, daß der Gedanke an ſie
keine von den alten Hoffnungen erweckte. Als er von
der Höhe herabſah, fragte er ſich: wird mir's gelingen,
ihr Bruder zu werden, die mir jetzt eine Schweſter iſt?
Noch eine Weile ſtand er und ſah hinab. Aber
ſeine Haltung hatte ſich verändert und ſein Blick war
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/43>, abgerufen am 21.11.2024.
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