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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 2. Heidelberg und Leipzig, 1856.

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Vorrede.
schaften an der Aortenmündung vollkommen bekannt wären, bei dem
Durchgang durch das Gefässsystem verhalten würde.

Bei einer genaueren Vergleichung dessen, was die anatomische
Beschreibung bisher geleistet, mit dem, was die Physiologie von ihr
zu verlangen hat, wird man bald gewahren, dass nur der geringste
Theil des Inhaltes aller anatomischen Werke dem Physiologen wirk-
lich nützlich ist. Dieses gilt insbesondere auch von dem anatomi-
schen Material, welches mit dem Namen der Entwickelungsgeschichte
bezeichnet wird. Das physiologische Lehrbuch wird es, abgesehen
von allem übrigen, so lange der reinen Anatomie überlassen müssen,
bis mehr oder weniger klare Andeutungen darüber vorliegen, wie die
primitiven Formen des entstehenden Thieres oder Organes sich be-
theiligen an dem Hervorgehen der sekundären Gebilde.

Die Behauptung, dass ein grosser Theil der Resultate anatomi-
scher
Forschung noch nicht zu einem Platze in einem physiologischen
Lehrbuche geeignet sei, kann begreiflich ihrem Urheber nicht den
Vorwurf zuziehen, dass er diese anatomische Thatsache überhaupt,
wie z. B. für die Operationslehre, gering anschlage, und noch weni-
ger, dass er das Talent oder gar den Charakter eines Anatomen nicht
zu würdigen wisse, der mit eingeborenem Blicke das Ungleichartige
im Aehnlichen und das Gleichartige im Verschiedenen wiederfindet,
dessen Ausdauer in einer ebenso schwierigen als monotonen Technik
nicht ermüdet. Diesen Anatomen muss die physiologische Wissenschaft
ehren als den ersten Vorboten der hereinbrechenden physiologischen
Cultur.

Es bedarf keiner Ausführung, dass das, was für den Anatomen
gilt, mit demselben Rechte angewendet werden kann auf die che-
mische und physikalische Untersuchung des Organischen, und dass
darum auch nach jener Seite hin die Grenze gezogen ist für das,
was sich für ein physiologisches Lehrbuch eignet.

Bei den reichlichen Klagen, welche die Pathologen über die un-
praktische Richtung der sog. physikalischen Physiologie äussern und
noch mehr bei dem gänzlichen Mangel des vorliegenden Buches an
pathologischen Ausführungen, wird es vermuthlich vielen auffällig
sein, dass der hier innegehaltene Gang der Forschung und des Unter-
richtes durch das ärztliche Bedürfniss geboten sei; diesen Zweiflern

Vorrede.
schaften an der Aortenmündung vollkommen bekannt wären, bei dem
Durchgang durch das Gefässsystem verhalten würde.

Bei einer genaueren Vergleichung dessen, was die anatomische
Beschreibung bisher geleistet, mit dem, was die Physiologie von ihr
zu verlangen hat, wird man bald gewahren, dass nur der geringste
Theil des Inhaltes aller anatomischen Werke dem Physiologen wirk-
lich nützlich ist. Dieses gilt insbesondere auch von dem anatomi-
schen Material, welches mit dem Namen der Entwickelungsgeschichte
bezeichnet wird. Das physiologische Lehrbuch wird es, abgesehen
von allem übrigen, so lange der reinen Anatomie überlassen müssen,
bis mehr oder weniger klare Andeutungen darüber vorliegen, wie die
primitiven Formen des entstehenden Thieres oder Organes sich be-
theiligen an dem Hervorgehen der sekundären Gebilde.

Die Behauptung, dass ein grosser Theil der Resultate anatomi-
scher
Forschung noch nicht zu einem Platze in einem physiologischen
Lehrbuche geeignet sei, kann begreiflich ihrem Urheber nicht den
Vorwurf zuziehen, dass er diese anatomische Thatsache überhaupt,
wie z. B. für die Operationslehre, gering anschlage, und noch weni-
ger, dass er das Talent oder gar den Charakter eines Anatomen nicht
zu würdigen wisse, der mit eingeborenem Blicke das Ungleichartige
im Aehnlichen und das Gleichartige im Verschiedenen wiederfindet,
dessen Ausdauer in einer ebenso schwierigen als monotonen Technik
nicht ermüdet. Diesen Anatomen muss die physiologische Wissenschaft
ehren als den ersten Vorboten der hereinbrechenden physiologischen
Cultur.

Es bedarf keiner Ausführung, dass das, was für den Anatomen
gilt, mit demselben Rechte angewendet werden kann auf die che-
mische und physikalische Untersuchung des Organischen, und dass
darum auch nach jener Seite hin die Grenze gezogen ist für das,
was sich für ein physiologisches Lehrbuch eignet.

Bei den reichlichen Klagen, welche die Pathologen über die un-
praktische Richtung der sog. physikalischen Physiologie äussern und
noch mehr bei dem gänzlichen Mangel des vorliegenden Buches an
pathologischen Ausführungen, wird es vermuthlich vielen auffällig
sein, dass der hier innegehaltene Gang der Forschung und des Unter-
richtes durch das ärztliche Bedürfniss geboten sei; diesen Zweiflern

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[VI/0012] Vorrede. schaften an der Aortenmündung vollkommen bekannt wären, bei dem Durchgang durch das Gefässsystem verhalten würde. Bei einer genaueren Vergleichung dessen, was die anatomische Beschreibung bisher geleistet, mit dem, was die Physiologie von ihr zu verlangen hat, wird man bald gewahren, dass nur der geringste Theil des Inhaltes aller anatomischen Werke dem Physiologen wirk- lich nützlich ist. Dieses gilt insbesondere auch von dem anatomi- schen Material, welches mit dem Namen der Entwickelungsgeschichte bezeichnet wird. Das physiologische Lehrbuch wird es, abgesehen von allem übrigen, so lange der reinen Anatomie überlassen müssen, bis mehr oder weniger klare Andeutungen darüber vorliegen, wie die primitiven Formen des entstehenden Thieres oder Organes sich be- theiligen an dem Hervorgehen der sekundären Gebilde. Die Behauptung, dass ein grosser Theil der Resultate anatomi- scher Forschung noch nicht zu einem Platze in einem physiologischen Lehrbuche geeignet sei, kann begreiflich ihrem Urheber nicht den Vorwurf zuziehen, dass er diese anatomische Thatsache überhaupt, wie z. B. für die Operationslehre, gering anschlage, und noch weni- ger, dass er das Talent oder gar den Charakter eines Anatomen nicht zu würdigen wisse, der mit eingeborenem Blicke das Ungleichartige im Aehnlichen und das Gleichartige im Verschiedenen wiederfindet, dessen Ausdauer in einer ebenso schwierigen als monotonen Technik nicht ermüdet. Diesen Anatomen muss die physiologische Wissenschaft ehren als den ersten Vorboten der hereinbrechenden physiologischen Cultur. Es bedarf keiner Ausführung, dass das, was für den Anatomen gilt, mit demselben Rechte angewendet werden kann auf die che- mische und physikalische Untersuchung des Organischen, und dass darum auch nach jener Seite hin die Grenze gezogen ist für das, was sich für ein physiologisches Lehrbuch eignet. Bei den reichlichen Klagen, welche die Pathologen über die un- praktische Richtung der sog. physikalischen Physiologie äussern und noch mehr bei dem gänzlichen Mangel des vorliegenden Buches an pathologischen Ausführungen, wird es vermuthlich vielen auffällig sein, dass der hier innegehaltene Gang der Forschung und des Unter- richtes durch das ärztliche Bedürfniss geboten sei; diesen Zweiflern

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 2. Heidelberg und Leipzig, 1856, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie02_1856/12>, abgerufen am 21.11.2024.