Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Bescheidenheit bey den Ansprüchen etc.
Einrichtung, welche du getroffen hast und verfehle
meine Absicht. Wenn ich Ansprüche auf solche Vor-
züge mache, die mir in meiner Lage nie zu Theil wer-
den können, weil ich die dazu gehörigen Eigenschaf-
ten nicht besitze, so ist dieß die größte Unbescheidenheit
mit Leichtsinn und Mangel des Nachdenkens verbun-
den. Wie wichtig und heilsam ist es daher für mich,
daß ich bey Zeiten mit den wahren Verhältnissen und
den gegründeten Ansprüchen meines Geschlechts be-
kannt werde, daß ich in meinen gegenwärtigen Jah-
ren die allein wirksamen Mittel kennen lerne, wo-
durch ich diese gegründeten Ansprüche geltend machen
kann und muß!

Nichts ist der Ausbildung meines Charakters
mehr entgegen, nichts streitet mehr mit meiner weib-
lichen Bestimmung, als wenn ich, unzufrieden mit
dem, was du mir angewiesen hast, nach andern und
höhern Dingen strebe, die ich nicht besitzen kann und
soll. Da verabsäume ich die Pflichten, die mir wirk-
lich obliegen, und lege mir andere, unnützliche Verbind-
lichkeiten auf, die niemand von mir fordert. Da
liebe und thue ich nicht das, was ich in meiner Verbin-
dung mit der Welt thun und lieben soll, sondern da
richte ich meine ganze Aufmerksamkeit nur auf solche
Gegenstände, wodurch ich weder mir noch andern ir-
gend einen Nutzen verschaffen kann. Da schlage ich
tausend kleine, aber wahre Vortheile aus, die mir
meine Stelle anbietet, und jage solchen nach, die ich
nie zu erreichen im Stande bin. Dieß ist die Quelle
des Stolzes, der Eitelkeit, des Neides und mehrerer

hän-
H 2

Die Beſcheidenheit bey den Anſprüchen ꝛc.
Einrichtung, welche du getroffen haſt und verfehle
meine Abſicht. Wenn ich Anſprüche auf ſolche Vor-
züge mache, die mir in meiner Lage nie zu Theil wer-
den können, weil ich die dazu gehörigen Eigenſchaf-
ten nicht beſitze, ſo iſt dieß die größte Unbeſcheidenheit
mit Leichtſinn und Mangel des Nachdenkens verbun-
den. Wie wichtig und heilſam iſt es daher für mich,
daß ich bey Zeiten mit den wahren Verhältniſſen und
den gegründeten Anſprüchen meines Geſchlechts be-
kannt werde, daß ich in meinen gegenwärtigen Jah-
ren die allein wirkſamen Mittel kennen lerne, wo-
durch ich dieſe gegründeten Anſprüche geltend machen
kann und muß!

Nichts iſt der Ausbildung meines Charakters
mehr entgegen, nichts ſtreitet mehr mit meiner weib-
lichen Beſtimmung, als wenn ich, unzufrieden mit
dem, was du mir angewieſen haſt, nach andern und
höhern Dingen ſtrebe, die ich nicht beſitzen kann und
ſoll. Da verabſäume ich die Pflichten, die mir wirk-
lich obliegen, und lege mir andere, unnützliche Verbind-
lichkeiten auf, die niemand von mir fordert. Da
liebe und thue ich nicht das, was ich in meiner Verbin-
dung mit der Welt thun und lieben ſoll, ſondern da
richte ich meine ganze Aufmerkſamkeit nur auf ſolche
Gegenſtände, wodurch ich weder mir noch andern ir-
gend einen Nutzen verſchaffen kann. Da ſchlage ich
tauſend kleine, aber wahre Vortheile aus, die mir
meine Stelle anbietet, und jage ſolchen nach, die ich
nie zu erreichen im Stande bin. Dieß iſt die Quelle
des Stolzes, der Eitelkeit, des Neides und mehrerer

hän-
H 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0127" n="115"/><fw place="top" type="header">Die Be&#x017F;cheidenheit bey den An&#x017F;prüchen &#xA75B;c.</fw><lb/>
Einrichtung, welche du getroffen ha&#x017F;t und verfehle<lb/>
meine Ab&#x017F;icht. Wenn ich An&#x017F;prüche auf &#x017F;olche Vor-<lb/>
züge mache, die mir in meiner Lage nie zu Theil wer-<lb/>
den können, weil ich die dazu gehörigen Eigen&#x017F;chaf-<lb/>
ten nicht be&#x017F;itze, &#x017F;o i&#x017F;t dieß die größte Unbe&#x017F;cheidenheit<lb/>
mit Leicht&#x017F;inn und Mangel des Nachdenkens verbun-<lb/>
den. Wie wichtig und heil&#x017F;am i&#x017F;t es daher für mich,<lb/>
daß ich bey Zeiten mit den wahren Verhältni&#x017F;&#x017F;en und<lb/>
den gegründeten An&#x017F;prüchen meines Ge&#x017F;chlechts be-<lb/>
kannt werde, daß ich in meinen gegenwärtigen Jah-<lb/>
ren die allein wirk&#x017F;amen Mittel kennen lerne, wo-<lb/>
durch ich die&#x017F;e gegründeten An&#x017F;prüche geltend machen<lb/>
kann und muß!</p><lb/>
          <p>Nichts i&#x017F;t der Ausbildung meines Charakters<lb/>
mehr entgegen, nichts &#x017F;treitet mehr mit meiner weib-<lb/>
lichen Be&#x017F;timmung, als wenn ich, unzufrieden mit<lb/>
dem, was du mir angewie&#x017F;en ha&#x017F;t, nach andern und<lb/>
höhern Dingen &#x017F;trebe, die ich nicht be&#x017F;itzen kann und<lb/>
&#x017F;oll. Da verab&#x017F;äume ich die Pflichten, die mir wirk-<lb/>
lich obliegen, und lege mir andere, unnützliche Verbind-<lb/>
lichkeiten auf, die niemand von mir fordert. Da<lb/>
liebe und thue ich nicht das, was ich in meiner Verbin-<lb/>
dung mit der Welt thun und lieben &#x017F;oll, &#x017F;ondern da<lb/>
richte ich meine ganze Aufmerk&#x017F;amkeit nur auf &#x017F;olche<lb/>
Gegen&#x017F;tände, wodurch ich weder mir noch andern ir-<lb/>
gend einen Nutzen ver&#x017F;chaffen kann. Da &#x017F;chlage ich<lb/>
tau&#x017F;end kleine, aber wahre Vortheile aus, die mir<lb/>
meine Stelle anbietet, und jage &#x017F;olchen nach, die ich<lb/>
nie zu erreichen im Stande bin. Dieß i&#x017F;t die Quelle<lb/>
des Stolzes, der Eitelkeit, des Neides und mehrerer<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 2</fw><fw place="bottom" type="catch">hän-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[115/0127] Die Beſcheidenheit bey den Anſprüchen ꝛc. Einrichtung, welche du getroffen haſt und verfehle meine Abſicht. Wenn ich Anſprüche auf ſolche Vor- züge mache, die mir in meiner Lage nie zu Theil wer- den können, weil ich die dazu gehörigen Eigenſchaf- ten nicht beſitze, ſo iſt dieß die größte Unbeſcheidenheit mit Leichtſinn und Mangel des Nachdenkens verbun- den. Wie wichtig und heilſam iſt es daher für mich, daß ich bey Zeiten mit den wahren Verhältniſſen und den gegründeten Anſprüchen meines Geſchlechts be- kannt werde, daß ich in meinen gegenwärtigen Jah- ren die allein wirkſamen Mittel kennen lerne, wo- durch ich dieſe gegründeten Anſprüche geltend machen kann und muß! Nichts iſt der Ausbildung meines Charakters mehr entgegen, nichts ſtreitet mehr mit meiner weib- lichen Beſtimmung, als wenn ich, unzufrieden mit dem, was du mir angewieſen haſt, nach andern und höhern Dingen ſtrebe, die ich nicht beſitzen kann und ſoll. Da verabſäume ich die Pflichten, die mir wirk- lich obliegen, und lege mir andere, unnützliche Verbind- lichkeiten auf, die niemand von mir fordert. Da liebe und thue ich nicht das, was ich in meiner Verbin- dung mit der Welt thun und lieben ſoll, ſondern da richte ich meine ganze Aufmerkſamkeit nur auf ſolche Gegenſtände, wodurch ich weder mir noch andern ir- gend einen Nutzen verſchaffen kann. Da ſchlage ich tauſend kleine, aber wahre Vortheile aus, die mir meine Stelle anbietet, und jage ſolchen nach, die ich nie zu erreichen im Stande bin. Dieß iſt die Quelle des Stolzes, der Eitelkeit, des Neides und mehrerer hän- H 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/127
Zitationshilfe: Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/127>, abgerufen am 23.11.2024.